Im Untertitel von Harold James „Schockmomente“ heißt es: „Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung von 1850 bis heute“ (Verlag Herder GmbH, Freiburg in Breisgau 2022, S. 544, 35,00 Euro). Um die zu besprechende Periode einzugrenzen, wählt der britische Autor, der in den USA arbeitet, sieben Zeitabschnitte seit 1850, bei denen wirtschaftliche Schocks besonders deutlich auftraten und auf die er sich konzentriert. Dazu zählt natürlich die Weltwirtschaftskrise von 1929-1933, die Welt-Inflationsperiode in den 1970er Jahren, die Welt-Finanzkrise von 2008-2009. Jahre dazwischen werden auch besprochen, aber nur wenn sie in einem deutlichen Zusammenhang mit den Schockmomenten stehen.
Am Ende eines jeden Kapitels ist ein größerer Abschnitt einem (oder max. zwei) bedeutsamen Ökonomen in dem beschriebenen Zeitabschnitt gewidmet. So wird gleich am Ende des ersten Kapitels, der 1850 bis 1873 beschreibt („Die große Hungersnot und der große Aufstand“), Karl Marx in Verbindung mit Friedrich Engels behandelt.
Wichtig für das Verständnis des Buches ist die These des Autors, dass große Wirtschaftskrisen als Schocks des Angebots oder der Nachfrage gedeutet werden können. Siehe z.B. S. 30:
„Die plausiblere Erklärung für die Nachwirkung von Traumata liegt im Charakter des Schocks selbst. Nicht alle Krisen sind gleich. Insbesondere ist zwischen Angebots- und Nachfrageschocks zu unterscheiden.“
Die Unterscheidung zwischen Angebots- oder Nachfrageschock ist bedeutsam für das Managen der Wirtschaftskrise. Denn in den 1970er Jahren hat diese Nichtunterscheidung zu einem zunächst falschen Reagieren der Regierungen in den Industrieländern geführt. Sie wollten die Krise mit keynesianischen Methoden, also einem Erhöhen der Staatsausgaben und dem Stützen des Konsums begegnen. Dies trug aber zunächst nur dazu bei, die Staatsverschuldung dieser Staaten zu erhöhen, ohne die Krise in den Griff zu bekommen. Es war indessen eindeutig ein Angebotsschock, das Erhöhen der Erdölpreise durch die erdölproduzierenden Länder, wodurch andere Instrumente des Daraufreagierens, wie geldpolitische gebraucht wurden. – Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, auch von anderen Autoren schon geäußert, wie Gustav Horn „Des Reichtums fette Beute“ (2011 publiziert), aber trägt zur wirtschaftlichen Bildung des Lesers bei. In der jetzigen Periode der Inflation (2020er Jahre) wurde von den Regierungen und Zentralbanken dieser Einsicht Rechnung getragen.
Interessant ist das Überprüfen der einzelnen Wirtschaftskrisen, ob sie der These von Harold James standhalten, dass es wichtig ist, zu unterscheiden, ob ein Angebots- oder Nachfrageschock vorliegt, und welche Schlussfolgerungen sich daraus ergeben. Insgesamt ist die These schon recht tragfähig, doch wie der Autor selbst zeigt, kommen bei jeder Krise noch eigene Momente hinzu. Zum Beispiel ordnet James die Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933 so ein (S. 33):
„Die Great Depression in den USA, die im 20. Jahrhundert zu einem weltweiten Entglobalisierungsschub führte, war in erster Linie ein Nachfrageschock. Man deutete die Katastrophe als »Elend im Überfluss«: ein Überangebot von Getreide (und anderen Waren) hatte die Preise nach unten gedrückt. Die Antwort der Politik lautete Nachfragesteuerung: Die Regierungen hatten für einen Nachfragezuwachs zu sorgen und die Preise nach oben zu treiben.“
– Ausgelöst wurde die damalige Weltwirtschaftskrise nach häufiger Lesart durch den „Schwarzen Freitag“ (25. Oktober 1929) an der New Yorker Börse. Doch allein ein „Börsencrash“ hätte nie eine so lange anhaltende Wirtschaftskrise bewirken können. Wie James belegt, kommt 1931 eine veritable Bankenkrise in Europa dazu, die dann auf die USA überschwappt. Siehe S. 202:
„Leider wird in relativ vielen wissenschaftlichen Darstellungen über die US-amerikanische Große Depression nicht umfassend berücksichtigt, wie sich die europäische Krise auswirkte, wie sie die finanzielle Unsicherheit weiter anheizte und die Banken dazu veranlasste, Kredite zurückzufordern. Tatsächlich machte erst die internationale Panik im Sommer 1931 aus einer schweren Rezession in den Vereinigten Staaten die Große Depression.“
Die internationale Finanzkrise von 2008/2009 geht nach Jamesscher Lesart auch auf ein Nachfrageschock zurück. Dieser Schock wurde durch die Verwerfungen am Finanz- und Bankenmarkt ausgelöst:
„Die finanzielle Eiszeit führte zu einem abrupten Wirtschaftsabschwung. Es kam zu Handelskontraktionen, da normale Geschäftskredite nicht mehr verfügbar waren. Die Arbeitslosigkeit stieg rapide an, in der USA erreichte sie im Oktober 2009 einen Höchststand von zehn Prozent. Die Güterproduktion fiel um circa 20 Prozent und der Wohnungsneubau um 80 Prozent. Die Produktionslücke, sprich: der Betrag, um den die Wirtschaftstätigkeit hinter dem Potenzial zurückbleibt, war zweifelsfrei beträchtlich.“ (S. 311)
Umfangreich in dem Buch von Harold James ist die Diskussion, warum nach der Finanzkrise kein großer Aufschwung folgte, sondern die Wirtschaft mehr oder weniger vor sich hindümpelte. Hätten die Konjunkturpakete größer sein müssen oder war es nicht richtig, die Geldschleusen zu öffnen, um keine Deflation nach dem Muster Japans in den 1990er Jahren zu zulassen? In diesen Überlegungen fügt sich auch der Ökonom Ben Bernanke ein, der am Ende des Kapitels „6. Die »große Rezession« von 2008“ besprochen wird. Er hat die japanischen Ereignisse ausgewertet und spricht sich für eine lockere Geldpolitik aus. Andere Autoren, wie Kenneth Rogoff und Carmen Reinhardt argumentieren in „Diesmal ist alles anders“, dass die Konjunkturpakete zur Inflation und Staatsverschuldung beitragen würden. Man kann verstehen, dass als Wirtschaftshistoriker Harold James in diesem Streit keine Partei ergreift. Der zeitliche Abstand ist einfach zu gering, um schon klar zu erkennen, wer recht hat. Freilich lässt der Autor dadurch den Leser ratlos zurück.
Wenn schon das 6. Kapitel wenig zusammenfassend wirkt, so hätte das 7. Kapitel „7. Der große Lockdown: 2020 – 2021“ nach meiner Meinung nach nicht unbedingt geschrieben werden müssen. Durch die zeitliche Nähe zu heute, ist es zu wenig verallgemeinernd, es reiht bekannte Fakten aneinander. Und auch der US-amerikanische Ökonom Larry Summers, der am Schluss des Kapitels beleuchtet wird, bekommt nur Schlaglichter ab, ohne allzu große Erhellung.
Kurz ein Wort noch zur Globalisierung, die der Autor entsprechend seines Buch-Untertitels: „Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung von 1850 bis heute“ behandeln will. Auch da schreibt er bis zur Welt-Finanzkrise 2008/2009 recht einprägsam (auch wenn ich mir als Leser manchmal ein wenig mehr Material gewünscht hätte). Die Globalisierung ist nicht als gleichmäßiger Prozess zu begreifen, es gibt starke Globalisierungsimpulse neben Perioden von Deglobalisierungstendenzen. Mitunter treten die Anstöße zur Globalisierung gerade dann auf, wenn man sie gar nicht erwartet hätte, wie nach den 1850er Jahren. Indessen gilt ebenfalls für das Buch: Was der Autor für die Periode nach 2010 resümiert, ist mir noch zu aktuell und zu wenig durch die Zeit gefiltert.