Man sagt, Kapital sei wie ein scheues Reh. Es flüchtet, sobald es Ungemach wittert. So gesehen stehen in China Scherereien an, denn laut der Zeitschrift „Capital“ [11/2021 S. 120] hat bei einer Umfrage des Fondshauses Invesco unter 200 institutionellen Anlegern, die 1,6 Bill Dollar Vermögen verwalten, 12 Prozent angegeben, ihren China-Anteil reduzieren zu wollen – „dreimal so viele wie bei der Umfrage 2019. Nur noch 64 Prozent wollen ihre Positionen ausbauen, im Vergleich zu 80 Prozent vor zwei Jahren.“
China (gemeint ist immer die VR China Seb. Solt.) hat in reichlich dreißig Jahren Bewundernswürdiges in der Wirtschaft geschaffen. Andere Staaten haben dafür 100 Jahre und länger gebraucht. Möglich war das nur, weil ein zentralistischer Staat mit einer Einparteienregierung den Entwicklungsweg gewissermaßen abkürzte, indem staatliche Mittel in der Wirtschaft konzentriert wurden und die monopolistische politische Macht diesen Kurs entwickelte und ihn gegen alle Andersdenkende verteidigte, was auch hieß, sie einzuschüchtern oder auszuschalten. Aber genauso wie andere Staaten, die eine ähnliche Wirtschaftsvergangenheit durchlaufen haben (Südkorea, Japan, Taiwan, Singapur) und sich irgendwann transformieren mussten, steht auch vor China dieses Problem der wirtschaftlichen Transformation.
Kurz gesagt muss China sein Wirtschaftsmodell von einem vor allem auf Wachstum ausgelegten hin zu einem Modell der Effizienz verändern.
Eigentlich steht dieser Wechsel des chinesischen Wirtschaftsmodells schon seit etwa zehn Jahren auf der Tagesordnung. Das chinesische Wirtschaftswachstum war in den letzten zehn Jahren keineswegs effizient. Die Wirtschaft wuchs jährlich mit durchschnittlich 7,5 Prozent, die Verschuldung aber mit rund 20 Prozent. Schaut man in die offizielle Staatsverschuldung, so kommt das nicht zum Ausdruck, denn sie ist sehr moderat (s. Grafik).
Man sieht aus der Grafik, dass die Staatsverschuldung Chinas etwas über 65 Prozent zum BIP liegt, was tatsächlich moderat ist (zum Vergleich Deutschland 2020: 70 %). Aber die Gesamtverschuldung in China, wenn man die privaten und staatlichen Firmen sowie lokale Verwaltungen und Privathaushalte dazu nimmt, ist viel höher. Die Angaben in der Literatur schwanken dazu. Stützen wir uns auf das International Institut of Finance (einer globalen Vereinigung von Finanzinstituten), so lag sie im I. Quartal 2020 bei 317 % des BIP. Das ist zwar im Weltvergleich der Verschuldung nicht besonders hoch, denn die lag laut dem besagten Finanzinstitut im I. Quartal 2019 bei knapp 320 % des BIP, doch in China kommen zwei Besonderheiten hinzu:
Erstens, die Verschuldung ist besonders in den letzten zehn Jahren gestiegen, und
zweitens, sie betrifft, zwar nicht nur, aber auch den Immobiliensektor.
Erinnern wir uns an die Finanz- und Bankenkrise von 2008, die auch im Immobiliensektor der USA ihren Ausgangspunkt hatte. Dort waren zu viele Kredite an nicht solvente Schuldner vergeben wurden. Diese Kredite wurden dann gebündelt und verpackt und an Gläubiger auch in anderen Ländern verkauft.
In China liegen die Dinge freilich ein wenig anders. Dort wird zu viel gebaut, ohne nachfolgende ausreichende Nutzung. In einem Beitrag eines Korrespondenten aus China schreibt die Neue Zürcher Zeitung:
„ … immer mehr Geld floss [seit Mitte der 2000er Jahre Seb. Solt.] in unproduktive Vorhaben und Sektoren: Brücken ins Nirgendwo, kaum genutzte Flughäfen und eben: ungenutzte Wohnungen – Projekte, die kaum wirtschaftlichen Wert generieren. Bis zu 80 Millionen Wohnungen, zwischen 20 und 25 Prozent des Gesamtbestands, sollen in China leer stehen. Der Staats- und Parteichef Xi Jinping unterscheidet in diesem Zusammenhang «fiktives Wachstum» und «echtes Wachstum»“ [https://www.nzz.ch/meinung/china-muss-seine-sucht-nach-schulden-bekaempfen-ld.1647668]
Dieses übermäßige Bauen beschäftigt zwar Leute und treibt das Wirtschaftswachstum nach oben (gemessen am Bruttoinlandsprodukt), aber es beruht auf Krediten und treibt gleichzeitig die Verschuldung nach oben, ohne dass sie produktiv ist.
Und genau hier liegt das augenblickliche Gesamtproblem der chinesischen Wirtschaft, erstaunlich hohes Wirtschaftswachstum, das aber auf Pump beruht und nicht effektiv ist.
Was notwendig wäre…
Die Veränderung müsste im Finanz- und Bankensektor beginnen. Die Banken, die größtenteils staatlich sind, haben sich angewöhnt, Kredite nach politischen Vorgaben und hin auf politischen Druck zu vergeben. Das sichert ihnen geringste Kreditausfälle, weil der Staat bei Problemen einspringt. Eigentlich müssten sie nach Effizienzgesichtspunkten ihre Kredite vergeben, das würde von ihnen aber Selbständigkeit verlangen und hieße für den Staat, von seiner Macht, den Banken ihre Handlungen zu diktieren, abzugeben. Das würde aber einschneidend die gesamte Regierungsform verändern.
Bisher haben einzelne Autoren immer mal wieder die politische Führung in Peking gelobt, weil sie es geschafft hat, schwere ökonomische Krisen abzuwenden. Aber eigentlich hat die chinesische Führung in dem letzten Jahrzehnt nur immer wieder versucht, das irgendwie zu reparieren, was sie hinausgezögert hat: die Umgestaltung des Finanzsektors.
Typisch war das bei dem Schattenbankensystem in China. Anders als in den USA, wo sich ein Schattenbankensystem etablierte, um der staatlichen Regulierung zu entgehen, etablierte sich ein solches System in China, weil es, auf der einen Seite, für private Firmen zu wenig Kredite gibt und auf der anderen Seite, die Zinsen für Erspartes bei den Banken niedrig sind. Was lag für die Wirtschaft und die Banken näher, ein Zwischenglied einzurichten, die Schattenbanken, die nach der Finanzkrise 2008 entstanden. Diese Konstrukte, die hohe Renditen für die Anleger versprechen (bis zu 10 % p.a. – ganz ohne Risiko! so das Versprechen einer solchen Gebildes) und private Firmen an Kredite kommen lassen, erfüllen also durchaus eine wirtschaftliche Funktion. Freilich war die chinesische Regierung gezwungen, gegen bestimmte Exzesse bei den Schattenbanken und ihren Produkten mit Razzien vorzugehen und ihre Größe zu begrenzen. Doch immer, wenn in China Wirtschaftswachstum gebraucht wird, diskutiert man, diese Restriktionen zu lockern.
Ein anderes Kapitel ist der Immobiliensektor. Er ist auch bei uns ins Licht der Öffentlichkeit durch den Immobilienentwickler Evergrande gelangt, der in Zahlungsschwierigkeiten steckt. Eigentlich ist das Geschäftsmodell etlicher sogenannter Immobilienentwickler sehr solide, denn sie verlangen zumeist von ihren privaten Kunden Vorkasse für Wohnungen, die noch gar nicht gebaut sind. Doch wenn diese Immobilienfirmen zu schnell wachsen und darauf spekulieren, dass sich die Immobilienpreise ständig erhöhen und auch auf Kredit bauen, dann werden diese Firmen waghalsig und es wird kritisch. So sah sich der chinesische Staat genötigt, auch diesem Sektor Zügel anzulegen:
„Im vergangenen Jahr [August 2020 Seb. Solt.] lancierte Peking das Programm der «Drei roten Linien». Danach darf die Nettoverschuldung von Immobilienfirmen maximal 100 Prozent des Eigenkapitals betragen, die kurzfristige Verschuldung darf die Höhe der liquiden Zahlungsmittel nicht übersteigen, und die gesamten Verbindlichkeiten dürfen bei höchstens 70 Prozent des Anlagevermögens liegen.“ [Die bereits zitierte Neue Zürcher Zeitung]
Nach dieser Einschränkung hatte Evergrande, aber nicht nur diese Immobilienfirma, Schwierigkeiten, an neues Geld zu kommen. Und nun schwebt eine Pleitewolke über dem Immobilienbereich, wodurch einerseits von chinesischen Bürgern bereits bezahlte Wohnungen abgeschrieben werden müssten und andererseits eine Immobilienkrise mit sinkenden Immobilienpreisen die gesamte Volkswirtschaft betreffen würde, zumal zwei Drittel der Bankkredite mit Immobilien besichert sind. – Zu lange hatte aber „Partei- und Staatsführung“ wohlwollend dem Geschäftsgebaren der Immobilienentwickler zugeschaut. Sie trugen ja zum Wirtschaftswachstum bei. Allerdings ist in China alles ein wenig größer, und so könnte auch eine kommende Immobilienkrise das gesellschaftliche System in dem Land erschüttern.
Relativ einfach dagegen ist das zentralisierte Steuersystem, bei dem fast alle Steuereinnahmen an die Zentrale nach Peking fließen, zu reformieren. Aber auch das bedeutete, dass das staatliche Zentrum Macht abgeben müsste.
Wie könnte es weitergehen…?
Entscheidend ist, wie China die Transformation, die, wie gesagt, nunmehr seit zehn Jahren ansteht, anpackt. Im Augenblick sieht es eher danach aus, dass die vorhandenen Strukturen verfestigt werden sollen, und man nur „kosmetisch“ von ganz „oben“ eingreifen will. Daraufhin deuten die Aufhebung der nur zweimaligen Amtszeit des Staatspräsidenten (Xi Jinping), der jetzt lebenslänglich diese Funktion ausüben kann. Aber auch nationalistische Töne gegenüber Taiwan und Anrainer-Staaten am Südchinesischen Meer.
Soll sich demnach China in Richtung westlicher Staaten und ihrer Demokratie entwickeln? Nein, nein, darum geht es nicht! Sondern darum, dass Gesetze, die erlassen werden, für alle gelten, sowohl für die politischen Führer als auch für den einzelnen Bürger. Ganz wichtig ist eine eindeutige Gesetzeslage auch für die Planungssicherheit der chinesischen Firmen. Dass die sich entwickeln dürfen, darf nicht vom Wohlwollen der Regierenden abhängen.
Es gibt genügend Staaten, die die Transformation von einer staatlichen gelenkten Wirtschaft zu einer weitgehend unabhängigen privaten Wirtschaft nicht geschafft haben und in die Autokratie abgerutscht sind (Russland). Und andere Staaten haben es geschafft – mitunter unter großen Schwierigkeiten (Südkorea, Singapur, Japan). Eigenheiten in der politischen und wirtschaftlichen Struktur blieben dabei bis heute erhalten.