Die Türkei gehört zu den mittel-industrialisierten Ländern (man kann auch sagen: Schwellenländern), über die Clemens Schmale, ein Finanzmarktanalyst und Blogger, mal meinte, dass viele den Sprung zu den hochindustrialisierten Ländern nicht schaffen, auch wenn sie mitunter jahrelang sehr gute Wirtschafts-Wachstumsraten aufweisen.
Charakteristisch von solchen Ländern ist, dass die Landwirtschaft nicht mehr Hauptträger des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) ist (in der Türkei 2020 6,6 %), sondern dass die Industrie (27,8 %) sie überholt hat und ein starker Dienstleistungssektor (54,6%) existiert.
Meist fängt ja die Industrialisierung mit der Textilindustrie an, so auch in der Türkei. Für höherwertige Industrien gründen oft Konzerne Tochterniederlassungen und produzieren wegen niedriger Lohnkosten und qualifizierter Arbeiterschaft. Für Europa und die Golfregion werden vor allem Busse von Toyota, MAN, Daimler, Ford, Fiat und Renault gefertigt. Aber es gibt auch türkische Automobilhersteller wie Tofaş, Karsan, Temsa, BMC. Chemische Industrie, Maschinenbau und Elektronikindustrie wurden ebenfalls hauptsächlich von ausländischen Großunternehmen initiiert. (Bosch, Siemens).
Eine der Besonderheiten in der Türkei besteht darin, dass es einen starken Tourismus gibt und dass er eine Devisen-Haupteinnahmequelle ist. Eine weitere Besonderheit ist das starke West-Ost-Gefälle. Der Hauptteil der industrialisierten Türkei liegt im westlichen (europäischen) Teil der Türkei.
Obwohl die Bevölkerung der Türkei in den letzten 100 Jahren stark gewachsen ist (1927: knapp 14 Mio, 2020: mehr als 83 Mio) hat es die türkische Wirtschaft geschafft, das BIP pro Kopf in den letzten 30 Jahren zu erhöhen (s. Grafik). Das sagt zwar noch nichts darüber aus, ob die Erhöhung des BIP vielen Bürgern zugutegekommen ist, bleibt aber Voraussetzung für steigenden Wohlstand der Bevölkerung.
Aus der Grafik sieht man ganz deutlich, dass im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine starke Steigerung (auf das dreifache) des pro-Kopf-BIP stattfand. Auch die Wirtschaftskrisen in der Türkei, die es 1994, 1999, 2001 und 2008 gegeben hat, sind zu erkennen. Freilich im zweiten Jahrzehnt sieht es mit der Steigerung des Brutto-Inlandsprodukts nicht mehr so rosig aus. Seit 2013 ging es (zumindest in US-Dollar gemessen und in pro Kopf) kontinuierlich bergab.
Das Jahr 2013 ist auch das Jahr, in dem die Talfahrt der aktuellen türkischen Lira begann, die bis heute anhält. Dazu muss man wissen, dass starke Inflation in der Türkei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ein Alltagsphänomen war (s. nächste Grafik).
Obwohl die letzte Grafik erst im Jahr 1980 einsetzt, schaukelte sich die Inflation in der Türkei seit den 70er Jahren gewissermaßen hoch, bis sie 1998 sagenhafte 144 % im Jahr erreichte.
Ursache der Inflation waren steigende Staatsverschuldung und damit einhergehender gesteigerter Geldumlauf. Schon unter Ministerpräsident Adnan Menderes (1950 – 1960) verdoppelten sich die Lebenshaltungskosten und verachtfachte sich die Staatsverschuldung.
Im Jahr 2005 wurde eine Währungsumstellung vorgenommen, von der bisherigen „alten“ Lira wurden sechs Stellen gestrichen und auf „neue“ Lira umgestellt.
Die Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan von 2003
Erdogan ist seit 2014 Präsident der Türkei, vorher war er Ministerpräsident. Durch eine Verfassungsreform hat er relativ viel Macht als Präsident auf sich gezogen.
Seit etwa 2014 zieht die Staatsverschuldung leicht wieder an (niedrigster Wert 2015: 27,4 % des BIP), aber sie liegt immer noch in einem sehr moderaten Bereich (2020: 39,8 %). Die eigentliche Achillesferse der Türkei liegt aber woanders: bei den Fremdwährungsschulden türkischer Firmen. Christian Kreiß, Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre, schätzt ihre Verbindlichkeiten bei 240 Milliarden US-Dollar (was 34 % des BIP entspricht). [https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/tuerkei-lira-waehrungskrise-risiken-banken-103.html] Die Höhe des jährlichen türkischen Exports liegt aber nur bei etwa 170 Mrd. US-Dollar, wobei diesen Betrag auch nichttürkische Firmen erwirtschaften.
Die im Grunde nicht übermäßige Auslandsverschuldung türkischer Firmen kann aber schnell zur Last werden, wenn man bedenkt, dass sich die türkische Lira seit Jahren steil abwärts bewegt. Allein im letzten Jahr (2021) hat sie die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar eingebüßt. Und in den Jahren davor war es auch nicht viel besser. Mit anderen Worten, der Schuldenberg für türkische Firmen wird immer schwerer abzuzahlen. In Lira gemessen hat er sich verdoppelt und verdreifacht (mitunter vervielfacht).
Der Regierungschef Erdoğan hat die letzten Jahre nun folgendes gedacht: Wenn die türkische Lira gegenüber dem US-Dollar sinkt, ist das auch nicht so schlimm, es werden ebenfalls die Exporte für diese Firmen leichter, und das gleicht das wieder aus. Eigentlich gar nicht so falsch gedacht. Nur wenn man auf die türkischen Exporte (in US-Dollar) schaut, so haben die sich zwar im Jahr 2016 bis 2019 tatsächlich erhöht (um etwa 5 – 10 % jährlich), doch 2020 war der Export rückläufig, und hat den vorherigen Anstieg fast wieder aufgezehrt. Also wird der Währungsverlust keinesfalls durch den Export ausgeglichen.
Zu allem Ungemach kommt noch ein anderes Phänomen: die Inflation. Sie hat seit 2015 wieder angezogen und nähert sich der 20 %-Marke, wie man auch aus der obigen Grafik erkennen kann. Das Statistikportal „statista“ schreibt dazu: „Bereits in den Jahren 2019 und 2020 gehörte die Türkei zu den 20 Ländern mit der höchsten Inflationsrate weltweit und wird vermutlich auch im Jahr 2021 in dieser Rangliste vertreten sein.“ [https://de.statista.com/statistik/daten/studie/987938/umfrage/monatliche-inflationsrate-in-der-tuerkei/] Im Dezember 2021 schnellte die Inflation sogar gegenüber dem Dezember 2020 auf 36 % hoch.
Das bekommen natürlich Leute mit niedrigem Einkommen besonders zu spüren, denn sie geben einen besonders großen Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus und haben meist kein großes Sparpolster, auf das sie zurückgreifen können.
Insgesamt hat weltweit 2021 die Inflation angezogen. Das heißt also, sie ist in der Türkei nicht nur hausgemacht, sondern kommt darüber hinaus gewissermaßen von „außen“ oder wie man ökonomisch sagt, wird importiert.
Bei der veritablen Währungskrise konnte man den Kopf noch irgendwie in den Sand stecken und nichts tun – obwohl der berühmte Ökonom Paul Krugman, Nobelpreisträger aus den USA, versichert, dass es zu einem Teufelskreis kommt, wenn man nicht sofort energische Maßnahmen dagegen ergreift (wie Freigabe der Währung – ist nicht das Problem in der Türkei Seb. Solt., Kapitalverkehrskontrollen, Anheben der Zinsen) – doch bei der Inflation geht es gewissermaßen ans Eingemachte. Eine Vielzahl von türkischen Bürgern spüren sie und verlieren das Vertrauen zur Regierung (und zum Regierungschef!).
Das Dilemma von Erdoğan
Den Sinkflug der Lira kann man nur aufhalten, wenn man das tut, wogegen sich das Regierungsoberhaupt schon jahrelang sträubt, die Leitzinsen zu erhöhen. Und zwar müssen sie über die Inflationsrate angehoben werden. Außerdem müssen „vertrauensbildende Maßnahmen“ diesen Schritt untermauern. U.a. sollte Erdoğan nicht mehr in die Notenbankpolitik eingreifen, sondern die Selbständigkeit der türkischen Notenbank muss gewahrt sein, sonst kehren die ausländischen Investoren nicht zurück. Ihr Risiko wäre zu groß, dass dasselbe wie jetzt passiert.
Nochmals zu den Leitzinsen: Menschlich verständlich ist die Haltung von Erdoğan. Man würde zwar mit der massiven Erhöhung der Leitzinsen die Inflation sozusagen „einfangen“ – Sparen würde sich wieder lohnen und ausländische Investoren würden zurückkehren, gleichzeitig würden aber die Firmenkredite teurer werden und die Firmen würden weniger investieren. Das hieße indessen, eine Rezession auszulösen mit steigender Arbeitslosigkeit. Und die ist jetzt schon hoch (ca. 12 %). Und genau davor hat der Häuptling Angst!
Nun kann er zwar auf einen vom Ausland angezettelten „Wirtschaftskrieg“ und auf eine ominöse türkeifeindliche „Zinslobby“ schimpfen, um seiner Gemütslage Luft zu schaffen und die Schuld anderen zu zuschieben, aber aus seiner Kalamität befreit ihn das nicht.
Eine zweite Achillesferse der türkischen Wirtschaft
Auf eine Tatsache im Zusammenhang mit der Türkei wird in der westlichen Presse wenig hingewiesen: Die Inflationsrate besonders bei Nahrungsmitteln müsste in der Türkei nicht so hoch sein, wenn die Landwirtschaft durch die regierende AKP nicht vernachlässigt worden wäre. An und für sich bestehen in dem Land an der Ägäis perfekte klimatische Bedingungen für eine produktive Landwirtschaft. Dennoch werden Obst und Gemüse zum großen Teil importiert. Die fallende Lira schlägt deshalb mit einer inflationären Preisentwicklung auch bei Lebensmitteln durch.
So haben sich laut Verbraucherpreisindex Gurken allein im August 2021 gegenüber dem Vormonat Juli um 56 % verteuert, Zucchini um 43 % und Zitronen um 36 %. Um die Not der Verbraucher zu lindern, wurde bis zum Jahresende 2021 die Einfuhrzölle für acht Getreidesorten und Hülsenfrüchte vollkommen aufgehoben.
Es ist eben nicht alles vom Ausland gesteuert, wie Erdoğan, jede Schuld leugnend, verkündet.