Buchbesprechung zu Hans-Werner Sinns: Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation. Seitenanzahl der e-book-Ausgabe 573 (Printausgabe 536 Seiten) Printausgabe 28,00 Euro, 2. aktualisierte Auflage 2021, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021 (Seitenangabe e-book-Ausgabe)
Eines Tages werden (auch deutsche) Politiker sagen: Wir konnten doch nicht anders, wir mussten so viel Geld drucken lassen: Erst kam die Coronakrise und dann kam der Ukrainekrieg. Wir sind nicht an der Inflation schuld! – Dabei werden sie verschweigen, dass vorher schon alle Dämme gebrochen waren, und dass sie vorher schon nicht genügend gegen die hemmungslose Geldvermehrung getan hatten.
Um an diesen Fakt zu erinnern, dient dieses Buch. Doch der Reihe nach.
Die ersten 60 Seiten (betrifft 1. und 2. Kapitel) des 2021 erschienenen Buches von Hans-Werner Sinn erscheinen mir doch sehr tendenziös. Auf diesen Seiten macht der Autor seine ganze Abneigung gegen die EU, gegen Frankreich, gegen den Euro und gegen die „Grünen“ deutlich. (Wenn man die anderen Seiten nicht lesen würde, verstände man gar nicht, worin seine Abneigung besteht.)
Ein Beispiel für die Art der Darlegung ist die Überschrift zur Tabelle 2.1 auf S. 55 mit der Überschrift „Tabelle 2.1: Halsbrecherische EU-Vorgaben für CO2-Ausstoß der PKW-Flotten“. – Wenn schon eine Tabellenüberschrift dem Leser zu einer Meinung drängen soll und ihm nicht selbst die Meinungsbildung überlässt, dann ist das recht „gefährlich“.
Unter der Tabelle kommentiert Sinn: „Hinter diesen Maßnahmen steckt eine Koalition zwischen den industriepolitischen Interessen der französischen Hersteller und umweltpolitischen Extremvorstellungen bei den Grünen und grün Gesinnten. Letzteren ging es um das Klima, doch der französischen Industrielobby, die in Brüssel antichambrierte, ging es um die Marktchancen für die mit Atomstrom fahrende Elektroflotte, die die französischen Hersteller inzwischen aufgebaut hatten.“
Ich will nicht in Abrede stellen, dass einzelne Länder auch bei der Elektromobilität eigene Interessen verfolgen, doch wahr ist auch, dass der Kraftverkehr weltweit 25 % der CO2-Emmission verursacht und dass etwas getan werden muss.
Zum Glück ist aber nicht das Umwelt-Thema der Hauptgegenstand des Buches, sondern ein Geldthema, und zwar die Geldvermehrung der EZB (Europäischen Zentralbank) in den letzten zehn Jahren, und dabei ist Sinn unbedingt sachlich und weiß glänzend Bescheid. Um das Umwelt-Thema abzuschließen sei zusammenfassend gesagt, beim Geldthema tritt Sinn als Warnender auf (sein Credo: „Die Stabilität des Geldes ist eine Grundvoraussetzung der marktwirtschaftlichen Ordnung, denn erst sie ermöglicht einen reibungslosen Gütertausch innerhalb einer Zeitperiode und vor allem zwischen diesen Perioden.“ S. 13), bei der Klimapolitik aber als Bremser. (Das zeigen insbesondere Kapitel 2 und die letzten Teile des Kapitels 12, das vorletzte Kapitel des Buches.)
Das Kapitel 3 und folgende in dem Buch von Sinn
Das vorliegende Buch ab Kapitel 3 zeichnet sich nicht nur durch Sachlichkeit, Genauigkeit und Ausführlichkeit bei der Beurteilung der Geldpolitik der EZB aus, sondern auch durch eingestreute Exkurse. Zum Beispiel, Inflation in der Vergangenheit (in den letzten Jahrhunderten), die Hamilton-Periode in den USA, Auseinandersetzung mit dem berühmten französischen Ökonomen Thomas Piketty, die Liquiditätsfalle und wie es zu ihr kommt, usw. usw.
Die Geldpolitik der EZB ist schon als Geldthema kein leichtes Thema, doch die Ausführlichkeit, mit der Sinn sich dem Sachverhalt annimmt, macht das Buch nicht gerade zu einer leicht lesbaren und spannenden Lektüre. Im Gegenzug wird der Leser belohnt, in dem fast keine Frage im Zusammenhang mit dem erörterten Gebiet unbeantwortet bleibt. Ich selbst z.B. hatte bis zum Lesen dieses Textes die unbeantwortete Frage, ob denn der Urlaubsverkehr, den die Deutschen mit Griechenland, Italien und Spanien haben und dem dabei ausgegebenen Bargeld, nicht die Targetsalden mit diesen Ländern beeinflussen, sie also verringern? (Targetsaldo ist ein Bilanzsystem mit Forderungen und Verbindlichkeiten, der durch Handel und Kapitalverkehr zwischen den Euroländern entsteht.) Auch auf diese Frage geht der Autor ein (S. 90):
„Analog zu den Targetsalden werden allerdings auch noch Bargeldsalden von den Notenbanken des Eurosystems bilanziert, die den Abfluss physischen Geldes in andere Länder darstellen. Ein solcher Abfluss kann z. B. durch Gastarbeiter und Touristen zustande kommen, die das Geld physisch ins Ausland tragen.“
Der Autor Sinn stellt fest: Auch nach Berücksichtigung des Bargeldabflusses, bei dessen Berücksichtigung es eine gewisse Grauzone gibt, sind die Targetforderungen der Bundesbank an die genannten Länder immer noch sehr hoch (Juni 2021: 600 Mrd Euro).
Was sind die Grundaussagen des Buches (ab Kapitel 3)?
Eine erste Grundaussage des Buches ist eigentlich eine recht einfache: Die EZB „druckt“ seit 2013 ordentlich viel Geld, und die Gefahr der Inflation hat sich damit außerordentlich erhöht. Die Größenordnung der erweiterten Geldmenge ist dabei erschreckend, sie hat sich seit März 2014 bis September 2021 auf das Fünffache erhöht (bezogen auf die Zentralbank-Geldmenge M0).
Warum es bis zum Jahr 2021 noch nicht zur Inflation gekommen ist, liegt daran, dass die erweiterte Geldmenge bei den Banken und bei der EZB selbst gehortet wurde. Sie war bis dahin noch nicht in den Geldkreislauf gekommen.
Eine zweite Grundaussage des Buches ist, dass die EZB die Geldmenge gar nicht in der beschriebenen Weise hätte erweitern dürfen, denn laut den Verträgen von Maastricht muss die EZB allein auf die Geldwertstabilität achten. Eine Finanzierung von Staatsschulden ist ihr verwehrt. Aber genau das machte die EZB, sie nahm das neu geschaffene Geld und kaufte damit Staatspapiere (Staatsanleihen) auf. Alle Einwände deutscher und anderer Notenbanker wurden von den anderen Notenbanker überstimmt (einschließlich Frankreichs), denn es gilt in der EZB, ein Land eine Stimme. Selbst der EuGH (Europäische Gerichtshof) verwehrte der EZB nicht ihr Tun, denn sie kaufte die Staatspapiere nicht direkt von den Staaten, sondern von den Banken. – Was letztlich aber keinen großen Unterschied macht, sondern den Banken sogar noch ein einträgliches Geschäft garantiert.
Die dritte Grundaussage des Buches ist, dass die EZB in der Regel die Staatspapierankäufe mit den sehr niedrigen Zinsen im Euroraum erklärte und dass eine Deflation drohe. Aber in Wirklichkeit wollte sie die Zinsspreads (Zinsunterschiede auf Staatsanleihen) zwischen nord- und südeuropäischen Ländern auf den Kapitalmärkten senken, damit die hochverschuldeten südeuropäischen Länder weiter billigen Kredit bekamen. – Übrigens, dass die niedrigen Zinsen im Euroraum nur ein vorgeschobenes Argument waren, sieht man auch daran, dass in dem Augenblick, als die Zinsen im Euroraum 2022 stiegen, die EZB sich sehr schwer tat und tut, von ihrem Staatspapierankaufprogramm zu lassen und die Leitzinsen zu erhöhen.
Zusammenfassend kann man sagen: Fast jeder Seite des Buches beweist, dass sich die Eurozone und die EZB seit etwa 2013 in die falsche Richtung bewegen! Die Fehler, die in der Eurozone gemacht werden, wiegen um so schlimmer, da sie in Zukunft das Vertrauen auch in die EU erschüttern werden! Vielleicht hat sogar der fortgesetzte Vertragsbruch der EZB die EU-Kommission ermuntert, dasselbe zu tun, und auch Verträge zu brechen. Eigentlich darf sie sich nicht über ihre Einnahmen hinaus verschulden und Kredite aufnehmen (Siehe dazu auch das vorliegende Buch S. 210/211). Aber genau das hat sie mit dem Wiederaufbau-Fonds anlässlich Corona getan und hat sich von den EU-Ländern einen Freibrief für weitere Kredite geben lassen.
Man kann verstehen, dass die EU-Zentrale gern ein größeres Budget hätte, doch dann sollte sie es mit einer Vertragsänderung machen und nicht durch die Hintertür.
Wie kommt man aus der Kalamität der hohen Schulden wieder heraus?
Eigentlich hat man mit der Gründung der Eurozone einen richtigen Gedanken verfolgt, die Erleichterung des Warenverkehrs in Europa und ein Gegengewicht zum US-Dollar. Doch dabei hat man nicht bedacht, dass es zwischen Nord- und Südeuropa (vergröbert gesprochen) sehr stark unterschiedliche Kulturen hinsichtlich Spar- und Budgetdisziplin gibt. Oder „man“ wollte es gar nicht sehen, und unterstellt, so wie es H.-W. Sinn und andere tun, dass Frankreich den dominierenden Einfluss der D-Mark in Europa brechen wollte.
Deutschland hat zwar versucht, den Euro „hart“ zu machen, aber hat erstens einige wesentliche Konstruktionsfehler bei der Euro-Gründung zugelassen, z.B. der Nichtausgleich der Targetsalden. In den USA findet dagegen der Ausgleich in den Bilanzen zwischen den Bundesstaaten jährlich statt, durch Wertpapiere oder Wertgegenstände, selbst durch Goldtransporte. Und zweitens hat Deutschland die Stimmenmehrheit in der EZB auf Seiten der südeuropäischen Länder unterschätzt. Gegen dubiose fiskalische Tricksereien und ihre Absegnung durch die EZB helfen auch keine Klauseln in den Verträgen!
Wie der Deutschlandfunk schon im Mai 2019 vom EU-Parlament berichtete, ist die Atmosphäre in haushalts- und fiskalpolitischen Fragen vergiftet. Einige nordeuropäische Länder sagen: Ihr wollt nur unser Geld. Die südeuropäischen Länder halten dagegen: Ihr habt von der Währungsunion so profitiert, da könnt Ihr jetzt ein wenig Solidarität zeigen. [https://www.deutschlandfunk.de/eurozone-europa-was-den-norden-vom-sueden-trennt-100.html]
Auch der Autor Sinn hat keine Lösung parat (s.S. 448). Man kann auch sagen, wie sehr die Karre im Dreck steckt, merkt man auch bei diesen Buchseiten: Sinn kann sich weder dazu durchringen, die Schulden der Staaten bei der EZB zu streichen (weil ja dann u.a. auch die Targetsalden „zementiert“ werden würden), noch meint er, dass die EZB warten könne, bis die gekauften Staatspapiere auslaufen. Der Geldüberhang wäre bis dahin da.