Die Ukraine war sehr lange eng verbunden mit Russland bzw. der Russischen Föderation. Das ist ja nicht verwunderlich, da sie ja sogar ein größerer Teil der Sowjetunion war. Diese enge Bindung wird ihr jetzt regelrecht zum Verhängnis, da Putin (aber auch viele russische Bürger) meinen, sie gehöre zur russischen Föderation und dürfe keinen eigenen Weg einschlagen.
Falls es der Ukraine doch gelingen sollte, sich vom übermächtigen Nachbarn abzunabeln, so ist dieser Weg ein langer und steiniger, noch dazu, wenn man mit dem Anrainer historisch, kulturell und sprachlich eng verbunden ist.
Wie eng diese Verbindung war, zeigt sich auch wirtschaftlich, denn die wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen Russlands und der Ukraine ähneln sich sehr nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991. Das kann man u.a. an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ablesen (s. Grafik 1).
Bis 2009 ist die Entwicklung des BIP in der Ukraine fast deckungsgleich mit der Russlands, [siehe letzten Blogbeitrag vom März 2022, https://oekonomie-kompakt.de/russland-keine-wirtschaftliche-zukunftsorientierung/]. Erst nach diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die Grafiken. In Russland erhöht sich das BIP nach 2009 relativ kontinuierlich und wächst weiter über das Vorkrisenjahr 2008 hinaus, wenn auch nicht mehr ganz so dynamisch wie im 1. Jahrzehnt von 2000. In der Ukraine ist der Vorkrisenstand von 2008 bisher nicht wieder erreicht worden.
Das hängt mit zwei Ursachen zusammen. In dem zweiten Jahrzehnt von 2000 erfolgte eine Neuorientierung der Ukraine sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht, vorher hing die Ukraine gewissermaßen am Tropf der russischen Regierung (günstige Energie- und Rohstofflieferungen). Parallelen zur wirtschaftlichen Erscheinungen zwischen den beiden Ländern lassen sich ebenfalls finden: z.B. das Oligarchensystem und weit verbreitete Korruption. Zwar hatte man sich in dem Land für die Jahre 2010 bis 2014 ein umfangreiches Reformprogramm zur nachhaltigen Verbesserung des Investitionsklimas vorgenommen, doch es wurde nur ansatzweise umgesetzt.
Die zweite Ursache für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine ist der Konflikt mit Russland seit der Krim-Annexion 2014:
„Schon vor den Kämpfen im Land (d.h. die jetzige Aggression Russlands, Seb. Sol.) war die Ukraine wirtschaftlich angeschlagen. Das Brachliegen einiger Industriezweige und Produktionsausfälle gehörten zu den direkten Folgen der Kriegshandlungen im Osten. Die von den Kämpfen am meisten betroffenen östlichen Regionen Donezk und Lugansk sind aufgrund der Industrie und Steinkohlevorkommen wirtschaftlich besonders wichtig für die Ukraine. Entsprechend negativ wirkt es sich aus, dass in diesen Regionen die wirtschaftliche Aktivität gesunken ist.“ [https://www.lpb-bw.de/ukraine-wirtschaft]
Vergleich Ukraine mit den baltischen Republiken
Das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen Probleme der Ukraine wird vielleicht ersichtlich, wenn man sie mit den baltischen Republiken (Litauen, Lettland, Estland) vergleicht. Sie haben zwar zusammen genommen viel weniger Einwohner als die Ukraine (6 Mill zu 44 Mill), gehörten aber auch einmal zur Sowjetunion (wenn auch zeitlich nicht so lange wie die Ukraine). Diese drei Republiken nahmen nach 1991 eine ganz andere wirtschaftliche Entwicklung. (Wieder dargestellt an der BIP-Entwicklung, s. nachfolgende Grafik 2).
Seit 1995, seitdem die Daten verfügbar sind, hat es in den baltischen Republiken fast eine kontinuierliche wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung gegeben, nur unterbrochen von den Jahren 2007 bis 2009, aufgrund der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese Krise hat die baltischen Republiken schwer getroffen, und sie mussten Umstrukturierungen und Einsparungen vornehmen. Das drückt sich auch in Grafik 2 aus, die drei Republiken brauchten einige Jahre, um den Vorkrisenzustand wiederherzustellen. Doch sie schafften es und entwickelten sich wirtschaftlich danach weiter positiv – ganz anders also als die Ukraine.
Wird die Ukraine ihr schweres Erbe hinter sich lassen?
Noch hat die Ukraine den wirtschaftlichen Stand eines Entwicklungslandes, vergleichbar mit Sri Lanka und Moldau. Beim kaufkraftbereinigten BIP pro Kopf 2019 weist sie (laut wikipedia) sogar nur die Hälfte der Größe von Russland aus, das diesbezüglich auch zu einem Entwicklungsland gezählt werden muss.
Leider hat die Ukraine nicht nur den wirtschaftlichen Stand eines Entwicklungslandes, sondern die entsprechenden Begleiterscheinungen dazu, wie Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit. In der jährlich von Transparency International aufgestellten Liste mit dem Korruptionswahrnehmungsindex belegt das Land 2021 Rang 122 (von 180 Ländern) mit dem Ergebnis 32 Punkte (100 = keine Korruption). Es unterscheidet sich in dieser Beziehung nicht viel von Russland (Rang 136, 29 Punkte). [https://www.transparency.org/en/cpi/2021]
Gerade hinsichtlich Korruption – genauer: Nicht-Korruption – können die baltischen Republiken punkten, von allen ehemaligen Sowjetrepubliken liegen sie gemeinsam mit Georgien auf den ersten vier Plätzen.
Auch bei der Rechtsstaatlichkeit hat die Ukraine größeren Nachholbedarf. Am besten schneidet sie bei Ordnung und Sicherheit ab (0,75 von 1,0 Punkten). Doch bei fast allen postsowjetischen Republiken liegt dieser Wert recht hoch, sogar in Russland mit 0,70 (Jahr 2021). Hingegen hapert es beim Strafrecht am meisten, dort erreicht die Ukraine nur 0,37 Punkte von 1,0. Man wird nicht erstaunt sein, dass bei der Einschätzung der Rechtsstaatlichkeit insgesamt, so wie sie von der Organisation World Justice Project 2021 vorgenommen wird, wieder die baltischen Republiken weit vor der Ukraine liegen und sogar im westeuropäischen Durchschnitt abschneiden.
Gelegentlich passiert es, dass nicht enden wollende Armut und grassierende Korruption zu einem Auflehnen und Kundgebungen der Bevölkerung führen. Genau das geschah in der Ukraine mehrmals. Ein wichtiges Ereignis war der Maidan-Protest von 2013/14. Das auslösende Moment war damals, dass die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU von der ukrainischen Seite – wahrscheinlich auf Druck Moskaus – gestoppt wurden. Deshalb wird der monatelang anhaltende Protest auch Euro-Maidan genannt. Es könnte sein, dass dieses Geschehen einmal als Wendepunkt in der postsowjetischen Ära der Ukraine eingeht.
„Unbestritten ist, dass an den Protesten auch rechtsextreme Parteien und Gruppierungen beteiligt waren, die teilweise auch für die Eskalation der Gewalt von Seiten der Demonstranten verantwortlich gemacht werden konnten. Um ihre Forderungen auch auf parlamentarischem Weg voranzubringen, arbeiteten sowohl Julia Tymoschenkos Partei »Vaterland« als auch die von Witali Klytschko gegründete »Ukrainische demokratische Allianz für Reformen« (UDAR) mit der rechtsextremen Swoboda zusammen. Inwieweit die Partei allerdings Einfluss auf die Demonstranten besaß, ist umstritten. Bei Umfragen zu Parlamentswahlen im April 2014 erreichte die Swoboda lediglich 3,5 Prozent (2012: rund 10 %), der »Rechte Sektor«, eine weitere auf dem Majdan vertretene rechtsextreme Partei, erhielt 1,8 Prozent der Stimmen.“ [https://www.lpb-bw.de/ukraine-geschichte#c82508]
Im Februar 2014 ging die Polizei und kurz danach auch der Geheimdienst und die Armee auf die Seite der Opposition über. Damit war das Schicksal des damaligen Präsidenten Janukowytsch entschieden, er wurde abgesetzt.
Die russische Seite reagierte darauf mit der Annexion der Krim noch 2014 und der Unterstützung sogenannter separatistischer Bewegungen in Donezk und Luhansk. Außerdem wurden die Preise für Energielieferungen (Gas und Erdöl) aus Russland drastisch erhöht.
Erst 2015 fing sich die Ukraine wirtschaftlich wieder und es kam zu einer kleiner wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung (s. Grafik 1). Allerdings hing die Ukraine nun am „Tropf“ westlicher Kredite. Die waren vom Internationalen Währungsfond schon vor 2014 gewährt wurden. Mit der westlichen Ausrichtung der Ukraine gab es sie auch von den USA, der EU und Japans. Etliche deutsche Zeitungen titelten deshalb in den letzten Jahren: Ukraine – Fass ohne Boden.
Wie sehen die wirtschaftlichen Perspektiven der Ukraine aus?
Ob die Ukraine ihr schweres Erbe (Korruption, geringe Rechtsstaatlichkeit, hohe Auslands-Staatsverschuldung) hinter sich lassen wird, kann natürlich keiner sagen, zumal jetzt noch, wo sie um ihre bloße Existenz kämpft und von dem aufgezwungenen Krieg mit Russland schwer belastet wird.
Zumindest gibt es in den letzten Jahren ein paar zarte wirtschaftliche „Pflänzchen“, die etwas Hoffnung machen. So wurde versucht, die Ukraine in die wirtschaftliche westliche Arbeitsteilung einzubinden. Laut Mitteilung des DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) waren bis zum Kriegsbeginn rund 2.000 aktive Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung im Land tätig, die etwa 50.000 Mitarbeiter beschäftigen.
Nach Angaben eines niederländischen Unternehmens, das Entwicklung von Software vermittelt, sollen 200.000 Softwareentwickler bereits in der Ukraine arbeiten, Kiew wird mitunter deshalb das Silicon Valley Europas genannt. Allerdings eine Bezeichnung, die auch andere Städte für sich beanspruchen.
Man muss abwarten, ob diese beginnende positive wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine fortgesetzt werden kann.
Fazit: Aus dem vorliegenden Artikel geht eigentlich hervor, dass die Ukraine noch lange nicht in die EU aufgenommen werden sollte, auch wenn das einige maßgebliche Personen anders sehen. Hingegen auf der Tagesordnung steht, dieses Land gegen die russische Aggression zu unterstützen.