„Unter den drei großen Wirtschaftsblöcken der Welt gilt Europa als das schwächste Glied“ – stellte die Zeitung „Die Welt“ (aber nicht nur sie) im Jahr 2019 fest [ https://www.welt.de/wirtschaft/article193246157/EU-So-gut-stehen-die-Mitgliedstaaten-wirtschaftlich-da.html].
Stimmt das? Schauen wir uns einmal das Wachstum des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) pro Kopf der drei großen Wirtschaftsblöcke USA, Europäische Union und China seit 2000 an:
China liegt zwar in der BIP-pro-Kopf-Größe noch weit hinter den USA und der EU, holt aber kontinuierlich auf, selbst im letzten Jahrzehnt. Das kann man von der EU nicht behaupten. Da ging es zwar von 2000 bis 2008 kontinuierlich aufwärts, aber dann, wie man in der Grafik sehen kann, stagnierte das BIP pro Kopf. Und da das gemessene BIP in der Grafik in laufenden US-Dollars gemessen ist, und der Einfluss der Inflation nicht heraus gerechnet wurde, ging es real wahrscheinlich sogar in der EU im letzten Jahrzehnt etwas zurück.
Nun sollte man nicht gleich in Schwarzmalerei verfallen. Es gibt nämlich immer mal Perioden, in denen das BIP pro Kopf über einige Jahre selbst bei fortgeschrittenen Industrieländern stagniert. Nehmen wir zum Beispiel Japan, industriell das drittstärkste Land der Welt, und vergleichen es im selben Zeitraum mit Deutschland, industriell das viertstärkste Land der Welt:
Deutschland zeigt beim BIP pro Kopf dasselbe Verhalten wie die gesamte EU: aufwärts von 2000 bis 2008, seitdem seitwärts. Japan hingegen tendiert, bis auf das Peak 2011/2012, wenn man es großzügig interpretiert, ständig seitwärts.
Man muss, wie gesagt, nicht gleich in Schwarzmalerei verfallen, aber zu den Zielen, die sich die EU einst (2000 und 2010) gesetzt hat, zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden, passen die wirtschaftlichen Ergebnisse im letzten Jahrzehnt ganz und gar nicht. Wo liegen die Gründe dafür?
Gründe für die verhaltene wirtschaftliche Entwicklung der EU im letzten Jahrzehnt
Die eingangs zitierte „Die Welt“ nennt in ihrem Artikel zur EU auch gleich noch die Gründe für die wirtschaftliche „Schwäche“ der EU im letzten Jahrzehnt [s. obigen Link]. Da ist erstens, weil die Mitgliedsländer der EU, größtenteils eine schwache wirtschaftliche Entwicklung aufwiesen. Und die EU kann natürlich nur so stark sein, wie die einzelnen EU-Länder.
Zweitens, sind die EU-Länder demografisch angeschlagen. Im Gegensatz zur USA ist die Bevölkerung im letzten Jahrzehnt nicht mehr gewachsen, sondern hat abgenommen. Nun weisen zwar die obigen Grafiken das BIP pro Kopf aus, aber wenn mehr Rentner vom BIP „ernährt“ werden müssen, dann kann unter Umständen auch das BIP pro Kopf nicht wachsen.
Drittens ist der fiskalische Spielraum der meisten EU-Länder aufgrund der Schuldensituation eingeschränkt. Das macht sich besonders in Krisensituationen bemerkbar, wenn der Staat mit Geldspritzen und Investitionen aushelfen muss, aber er nur gebremst handeln kann.
Viertens ist die Europäische Union als Ganzes bei der Technologieentwicklung hintendran. Zu wenig technologische Neuerungen, gemessen an ihrer Bevölkerungszahl, gehen von ihr aus. Einst hatte sich die EU das Ziel gesetzt, 3 % vom BIP in Forschung und Entwicklung (F&E) zu investieren, 2017 waren es nur 2,07 %. [Link: https://ec.europa.eu/eurostat/documents/ 2995521/9483602/9-10012019-AP-DE.pdf/054a5cb0-ac62-4ca4-a336-640da396b817] Das ist zwar nicht das alleinige Maß für den Erfolg von F&E, aber ein Indiz dafür, dass auf diesem Gebiet zu wenig passiert.
Und fünftens müsste man noch hinzufügen, ist die EU politisch zerstritten, was die Einigkeit in Migrationsfragen, Finanzfragen und bei der Außenpolitik erschwert.
Die Probleme der EU werden nicht auf einmal verschwinden, zumal demografische, fiskalische sowie technologische Probleme nicht so einfach „lösbar“ sind, aber es lohnt sich doch Gedanken um die Entwicklung der EU zu machen.
In welche Richtung sollte sich die EU entwickeln?
Es gibt Politiker, die immer, wenn Probleme in der EU auftauchen, reflexartig mehr Integration fordern. Dazu gehört auch der französische Präsident Emmanuel Macron. Nach dem Beispiel Frankreichs mit einer starken Zentralgewalt soll auch Brüssel noch mehr Befugnisse bekommen.
Darüber ist in der EU ein Streit ausgebrochen: Mehr Zentralisierung oder mehr Dezentralisierung? Die Gegner von mehr Zentralisierung operieren mit dem Zauberwort „Subsidarität“ (nur soviel Zentralisierung, wie unumgänglich ist, die Lösung aller anderen Aufgaben sollte auf der Ebene der Nationalstaaten bleiben).
Nun kann man mit Schlagworten operieren, aber in einer ganzen Reihe von Fällen ist damit noch nicht konkret entschieden, wohin eine Aufgabe gehört. Außerdem gibt es ja einen Interessenkonflikt, die Politiker auf nationaler Ebene wollen so viel wie möglich Aufgaben behalten, die EU-Institutionen in Brüssel wollen so viel wie möglich Aufgaben an sich ziehen. Wobei einige Aufgaben von vornherein festgelegt wurden, z.B. Handelsrecht ist EU-Recht. Über Bildungsfragen entscheiden die Nationalstaaten.
Einen interessanten Artikel zur Entwicklung der EU hat die Zeitschrift „schweizer monat“ bereits 2013 veröffentlicht [https://schweizermonat.ch/so-hat-die-eu-eine-grosse-zukunft/#]. Darin gehen die Autoren einen anderen Weg, als sich mit der recht theoretischen Frage: mehr Zentralisierung oder mehr Dezentralisierung, abzumühen. Sie schauen, wie es in der Schweiz mit ihren 26 Kantonen funktioniert, in denen auch nicht überall dieselbe Sprache gesprochen wird.
Trotz dieser sprachlichen Unterschiede hat es die Schweiz geschafft, ein in etwa einheitliches Verwaltungssystem aufzubauen, von dem sich die EU ein Stück abgucken kann. Die EU will ja nicht nur eine Freihandelszone sein, sondern ein relativ einheitlicher Wirtschaftsraum mit bestimmten Standards.
Die sprachliche Vielfalt der EU scheint auf dem ersten Blick nicht problematisch, aber sie ist es doch, wie die Autoren der Schweizer Studie anmerken:
„Vielfalt ist einerseits Voraussetzung für fruchtbaren Wettbewerb, doch die in Europa mit ihr verbundene Vielsprachigkeit mindert gleichzeitig den Wettbewerb. Sie macht es für die Bürger schlecht funktionierender Staaten teuer, in andere Länder abzuwandern. Gleichzeitig erschwert sie das Lernen von anderen Staaten (und mindert die Chancen, dass beispielsweise dieser Artikel in Slowenien, Spanien oder Irland gelesen wird).“ [s. obigen Link]
Dass sich die europäischen Nordstaaten, einschließlich Deutschland, viel einheitlicher entwickeln als die europäischen Südstaaten hat also, nach Auffassung der Schweizer Autoren, mit einem einheitlichen bzw. verwandten Sprachraum zu tun. Die europäischen Südstaaten sind viel heterogener, das mindert das Verständnis und Lernprozesse. So gesehen ist es auch nicht zu empfehlen, die EU immer weiter zu erweitern, z.B. Richtung Türkei, die wieder ein ganz anderer Sprachraum ist und auch noch religiös anders geprägt ist.
Vielmehr sollte die EU ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, ein einheitliches Verwaltungssystem in den EU-Ländern aufzubauen. Das fängt bei den gezahlten Steuern in den einzelnen Staaten an, u.a. bei den Steuergesetzen:
„In manchen EU-Ländern wurden viele Gesetze und Regulierungen erlassen, die gar nicht wirklich darauf ausgerichtet waren, tatsächlich auch umgesetzt zu werden. Dabei wurden Steuergesetze oft in unsinniger und missbräuchlicher Weise ausgestaltet. Ein erster Reformschritt in Krisenländern ist nun oft, zuerst einmal die bestehenden Gesetze und insbesondere die Steuergesetze ernsthafter durchzusetzen. Wenn aber Länder wie Griechenland oder Italien all die viel zu komplizierten, verzerrenden und oft viel zu hohen Steuern wirklich einzutreiben versuchen, sind die Konsequenzen für die Wirtschaft dramatisch.“ [s. obigen Link]
Es geht also nicht unbedingt um einheitliche Steuern im EU-Raum (auch in den USA können die Bundesstaaten unterschiedliche Steuern erlassen), sondern dass die Steuern nicht unsinnig sind und deshalb auch eingetrieben werden können.
Damit in Zusammenhang steht, dass es unterschiedliche regionale/lokale Standortpraktiken gibt. Mitunter fließt das gesamte Steueraufkommen zuerst in die Hauptstadt, von wo es aus wieder verteilt wird. Das Ergebnis sind undurchschaubare Verteilungskämpfe, undurchsichtige Transfers und Korruption, was wieder eine schlechte Steuermoral der Bürger zur Folge hat. „Nicht nur ist damit die Steuermoral tief, vielmehr wird Steuerhinterziehung sogar sozial anerkannt. Wer Steuern zahlt, statt mit seinem Geld die lokale Wirtschaft zu stützen, wird zum eigentlichen Sünder,“ so die Schweizer Autoren in der Studie. Für Lokalpolitiker lohnt sich eine gute Standortpolitik nicht, denn die erzielten Steuereinnahmen kommen ja nicht der Region zu Gute. Viel wichtiger ist es, beim „Transfergemauschel“ in der Hauptstadt dabei zu sein. Der Unterschied zwischen den nord- und südeuropäischen besteht auch gerade in dem Grad der Gemeindeautonomie, die im Norden viel ausgeprägter ist.
Wenn wir schon bei den Finanzen sind, in der Schweiz hat sich eine Institution sehr bewährt, die in jeder Schweizer Gemeinde existiert: die Rechnungsprüfungs- oder Geschäftsprüfungskommissionen. „Sie können nicht nur – wie etwa der deutsche Bundesrechnungshof oder der EU-Rechnungshof – vor allem die gesetzestreue Mittelverwendung prüfen und im nachhinein über die Politik schimpfen, sondern im vornhinein – also vor den Entscheidungen – die Politikalternativen evaluieren und kritisieren. Unsere Forschung dazu zeigt, dass starke Rechnungsprüfungskommissionen einen äußerst fruchtbaren Einfluss auf die Qualität der Finanzpolitik haben. Diese Gremien haben auch ganz andere Anreize als Oppositionsparteien. Während letztere selbst an die Regierungsmacht wollen und deshalb immer versuchen, die Politik der Regierung möglichst zu torpedieren und zu blockieren, wollen die Mitglieder von Rechnungsprüfungskommissionen zumeist als Kommissionsmitglied wiedergewählt werden. Deshalb erarbeiten sie konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Regierungspolitik.“ [s. obigen Link] So etwas sollte man auch in der EU anstoßen.
Einen umfangreichen Platz räumen die Schweizer Autoren der Demokratiestärkung in der EU ein. Das beinhaltet nicht nur Volksbefragungen in der gesamten EU zu wichtigen Themen, sondern auch, dass die wichtigsten EU-Politiker in der gesamten EU gewählt werden, und sich damit für die gesamte EU verantwortlich fühlen. Der Abstand zwischen „Brüssel“ und der „übrigen EU“ würde damit verringert.
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[…] gar nicht gewählt wurde? (Wer will, kann dazu nochmals in meinem früheren Blogbeitrag nachlesen: https://oekonomie-kompakt.de/die-eu-nicht-nur-eine-freihandelszone/) – Insgesamt sind die Abschnitte zur EU dünn und können mit den Seiten zu Großbritannien nicht […]