Dieses kleine Buch (ca. 150 Seiten) wirft zwei grundlegende Fragen auf. Welche Auswirkung hat es, dass die Industriestaaten sich seit Mitte der 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts doppelt so schnell verschuldet haben, wie ihre Wirtschaftsleistung anstieg? Und, was waren die Ursachen für diese, heutzutage als Fehler zu erkennende, Verschuldungspolitik?
Der Autor Daniel Stelter hat in den letzten Jahren ein ganze Reihe von Büchern zur öffentlichen und privaten Verschuldungsproblematik geschrieben, wie „Die Billionen-Schuldenbome“ (2013) – sein grundlegendes Werk zur Verschuldung –, „Die Krise … ist vorbei … macht Pause … kommt erst richtig“ (2014), „Eiszeit in der Weltwirtschaft“ (2016). Bei dem vorliegenden Buch lehnt er sich ausdrücklich an Thomas Pikettys Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ an, das öffentlich viel Furore gemacht hat. Entsprechend heißt ja auch der Titel „Die Schulden im 21. Jahrhundert“.
Es ist nicht von großem Nachteil, wenn man den Bestseller von Piketty nicht kennt, denn Stelter referiert in seinem Büchlein dessen wichtigsten Ergebnisse, und das macht er sachgerecht. Allerdings kann man sich als Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass Stelter auch etwas gern von dem Ruhm Pikettys „abhaben“ möchte. In diesem Zusammenhang betont er mehrmals, dass Piketty zwar das Verdienst erworben hat, statistisches Material zu den letzten dreihundert Jahren zu Fragen des Vermögenswachstums und -konzentration auszuwerten, aber dass jener nicht in jedem Punkt die richtigen Schlussfolgerungen zieht. (Fast möchte man ergänzen: Dazu musste erst jemand wie Stelter kommen.) Diese Eigenart von Stelter ist nicht gerade ein Anreiz, sein Buch zu lesen.
Stelter zugestehen muss man, dass er einige „Unvollkommenheiten“ bei Piketty entdeckt. Zum Beispiel, dass dieser die Vermögenswerte in den Industriestaaten zu hoch ansetzt, weil nicht die Schulden berücksichtigt werden. Sie hatten in der Vergangenheit eine schuldenfinanzierte Nachfrage ausgelöst und machen jetzt manches Vermögen nicht 100% werthaltig. Ebenso ist die künftige Verschuldung in den Industriestaaten höher als derzeit angenommen, weil von der Politik gegebene Versprechen für künftige Renten-, Pensions- und Gesundheitsleistungen noch nicht eingepreist sind. Das betrifft auch Deutschland, wo hohe Pensionsverpflichtungen die gegenwärtige schwarze Null im Staatshaushalt in Zukunft kaum zulassen werden. Den demografischen Wandel in den europäischen Bevölkerungen hat Piketty genauso wenig berücksichtigt. Der französische Wissenschaftler betrachtet vor allem die Staatsschulden und nicht die privaten und die Unternehmensschulden. Aber gerade private Schulden waren für die schwere Finanzkrise von 2007/08 ausschlaggebend und nicht etwa die Staatsschulden.
Piketty meint – nach den Worten von Stelter –, dass es vor allem die Ungleichverteilung bei Einkommen und Vermögen ist, die behoben werden muss. Stelter sieht „das Problem hingegen in der Überschuldung in weiten Teilen der westlichen Welt. Deren Ursache ist eine Wirtschaftspolitik, die statt der eigentlich erforderlichen Investitionen in Bildung und Innovation die Probleme mit Schulden und immer billigerem Geld verdeckt hat.“ (S. 145)
Doch betreibt Stelter hier nicht ein wenig Haarspalterei? Eigentlich gilt ja beides seit Beginn der 80er Jahre, die Einkommens- und Vermögensunterschiede sind in den Industriestaaten größer geworden und die Verschuldung hat sich erhöht.
Trotz dieser Schwächen, zum Beispiel durch die Konzentrierung der Auseinandersetzung auf nur einem Autor, hat das Büchlein unbedingt seine Stärken. Das kommt freilich nur bei sehr konzentriertem Lesen (besonders des 4. Kapitels) heraus. Was der Autor dort auf etwa 40 kleinen Seiten darlegt, verschlägt einem als Leser, wenn man mit der Materie noch nicht vertraut ist, zum Teil den Atem. Die Schuldenkrise ist nicht ausgestanden, sondern sie kommt erst mit aller Wucht auf uns zu. Trotz der schwarzen Null in den letzten Jahren beim deutschen Staatshaushalt wird Deutschland davon nicht verschont. Erstmal hat der deutsche Staat noch hohe Pensionsverpflichtungen in der Zukunft, für die er bis jetzt noch keinen müden Euro zurückgelegt hat. Zweitens hat Deutschland so wie andere Staaten auch ein Demografieproblem. Und drittens ist Deutschland nicht nur Schuldnerland, sondern auch Gläubigerland, besonders innerhalb des Euro-Raumes. Wie der Euroraum überhaupt angesichts dieser schweren zukünftigen Erschütterungen zusammenzuhalten sein wird, steht in den Sternen.
Die Schuldenkrise zieht schon heute ihre Kreise, zum Beispiel hat der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz angemerkt, dass zur Stabilisierung des Euroraumes unbedingt eine Bankenunion nötig wäre. Das ist eigentlich richtig. Aber die scheitert im Augenblick daran, dass der europäische Bankensektor, insgesamt gesehen, insolvent ist, ca. 800 Mrd Euro wären nötig, um ihn zu reparieren. Stelter dazu: “Die derzeitige politische Diskussion um Bankenunion, Fiskalunion und ‘mehr Europa’ ist letztlich nichts anderes als eine Verteilungsdiskussion über die unbezahlbaren Schulden. Wer trägt welchen Verlust?“ (S. 119 f.)
Die beste Lösung, meint Stelter, wäre es noch, eine Restrukturierung der Schulden anzustreben, mit Gläubigerverzicht und -verlust, Zahlungs- und Zinsaufschub usw. usw. Dazu gehört auch, wie es Piketty anstrebt, eine Vermögensabgabe anzusteuern. Das wäre ein geordneter, einigermaßen gerechter Weg zum Abtragen der Schulden. Aber das schmeckt den Politikern gar nicht, weil es unangenehm ist – menschlich verständlich –, denn das wäre ja eine Eingeständnis ihres Versagens und ihrer Schuld. Sie hoffen statt dessen, dass es die nächste Politikergeneration ausbaden muss und nicht sie. Also geht der Weg – und auch darauf hoffen die Politiker stillschweigend – über ein Durchwursteln und irgendwann einmal, wenn es gar nicht mehr geht, über eine kräftige Inflation. Die trifft zwar alle, aber sie kommt dann eben wie der Blitz aus heiterem Himmel. Eingeleitet wird jetzt schon die ganze Sache mit dem Aufblähen der Bilanzen der europäischen Zentralbank (genauso wie auch die US-amerikanische, die japanische, die britische Zentralbank ihre Bilanzen vergrößern und immer weniger werthaltige Papiere akzeptieren). – In dem Hauptwerk von Stelter „Die Billionen-Schuldenbombe“ von 2013 wird dieses Verfahren noch als hypothetisches erwogen. In dem vorliegenden Buch von Stelter sieht der Leser, dass diese Richtung schon Konturen angenommen hat.
In dem vierten Kapitel des Stelterschen Buches geht der Autor nicht nur auf Piketty sondern auch kurz auf die Keynesianer Paul Krugman und Larry Summers ein. Diese Ökonomen, ebenso wie Stiglitz, predigen ja, dass man die Staatsausgaben in konjunkturell schlechten Zeiten kräftig erhöhen muss, um die Nachfrage anzukurbeln. Die Staatsverschuldung kann man dann in konjunkturell guten Zeiten wieder zurückzufahren. Für die gegenwärtige Wachstumsschwäche der Weltwirtschaft schlagen sie als Rezept auch eine Erhöhung der Staatsausgaben vor, besonders mit Investitionen in produktiven Bereichen. Aber so einfach ist es nun mal doch nicht. Die Verschuldung der Industriestaaten ist schon sehr hoch und kann nicht einfach abgetragen werden, indem man noch mehr auf Pump lebt. Stelter zu den Vorschlägen der genannten Ökonomen: „Doch dürften die Folgen fatal sein. Der unbedienbare Schuldenberg würde nur noch größer.“ (S.131)
Daniel Stelter hat in diesem Büchlein ein Thema erneut aufgegriffen, das uns noch über etliche Jahre (Jahrzehnte) beschäftigen wird.