Um das zu sagen, braucht es mehr als nur einen Satz, schon allein deshalb, weil nicht nur ökonomische Gründe in das Problem hineinspielen, sondern auch psychische und soziale. Da das ein ökonomischer Blog ist, soll die Ökonomie im Vordergrund stehen.
Zunächst einmal von zunehmender Unsicherheit und Angst in der Welt zu sprechen, ist nicht korrekt. Denn die Angst und Unsicherheit hat erkennbar in den letzten Jahrzehnten in den sogenannten westlichen Demokratien oder in den westlichen Industrieländern zugenommen, ablesbar an dem Rechtsruck bei den gewählten Parteien oder Bewegungen. In den Entwicklungsländern besteht bei großen Bevölkerungsgruppen seit längerem eine existenzielle Unsicherheit und Angst, die hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verstärkt. An dieser Stelle werden wir auf die relative Seite der Gefühle von Unsicherheit und Angst aufmerksam gemacht. Ein Mensch aus einem Entwicklungsland mit einem dort üblichen durchschnittlichen Einkommen würde denken, wenn er unsere Lebensverhältnisse sehen würde: „Was soll das, Unsicherheit und Angst? Die Leute leben doch gut!“ – Soziale Abstiegsängste rühren immer aus Vergleich mit der Umgebung und aus dem Vergleich mit der Vergangenheit her.
Geht es also der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern in den letzten zwei Jahrzehnten schlechter als vorher? Betrachten wir zunächst das wirtschaftliche Wachstum in den OECD-Ländern seit 1960, ob sich da etwas feststellen lässt. Zu den OECD-Ländern (OECD – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gehören zurzeit 35 Industrieländer, neben 25 europäische, noch als wichtige: USA, Kanada, Australien, Japan, Südkorea.
reales Wirtschafts-Wachstum der OECD-Länder 1960-2018
Man erkennt aus der Grafik, 2009 gab es zwar mal einen Einbruch im BIP, der deutlich ausfiel, der jedoch relativ schnell ausgebügelt wurde, auch sonst gab es mal drei bis maximal vier Jahre stagnierende Perioden, aber im großen und ganzen ist das Wirtschaftswachstum in den Industrieländern kontinuierlich aufwärts gerichtet. So einfach ist es also nicht mit der Angst und der Unsicherheit in der westlichen Welt.
Ist es also die große Finanzkrise (siehe dazu den letzten Blogbeitrag), die auf uns zukommt und die die Leute verunsichert? – Meist werden aber die Leute nicht im Vorfeld einer Finanzkrise depressiv, sondern erst, wenn sie ausbricht. Oder ist es gar die nahende Umweltkrise, die Angst macht? Auch das ist nicht einleuchtend, sonst würden rechtspopulistische Bewegungen oder Parteien wie die AfD oder Donald Trump, die die nahende Umweltkrise leugnen, nicht gewählt werden. Es muss etwas anderes sein, das die Leute nicht in Ruhe lässt.
Wenn wir nochmals auf die letzte Grafik schauen, sehen wir über die letzten 60 Jahre ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum, aber könnte es nicht sein, dass dieses Wachstum nicht allen Bürgern eines Landes gleichmäßig zu Gute kam? Seit Ende der 70er, zu Beginn der 80er Jahre beginnt die Phase des sogenannten Neoliberalismus. Mit ihm gehen ungleichmäßige Verteilungen des Vermögens- und Einkommenszuwachses einher (s. dazu den Blogbeitrag: »Die „ökonomischen Grundlagen“ des Neoliberalismus«). Worauf in jenem Blogbeitrag nicht eingegangen wurde, sind die prekären oder befristeten Beschäftigungsverhältnisse, die sich seit dieser Zeit in den westlichen kapitalistischen Ländern etablierten. Ursprünglich waren diese zeitlich befristeten Beschäftigungen eingeführt, um die hohen Arbeitslosenzahlen abzubauen und die Beschäftigung zu fördern. Die schwarz-gelbe Koalition in Deutschland, die 1985 die Möglichkeit befristete Arbeitsverhältnisse ohne Nennung eines sachlichen Grundes vonseiten der Arbeitgeber einführte, nannte deshalb dieses Gesetz auch „Beschäftigungsförderungsgesetz“. Ob dieses Gesetz wirklich die Beschäftigung wieder erhöht hat, ist umstritten, auf alle Fälle förderte es aufseiten der Arbeitnehmer prekäre Arbeitsverhältnisse. Jeder, der einen geregelten, langfristigen Job verlor, musste Furcht haben, in einer neuen anderen Tätigkeit, nur noch einen befristeten Arbeitsvertrag zu erhalten, und danach wieder auf der Straße zu stehen. – Die Befristung war zuerst nur für 18 Monate zulässig, später, nach 2001 bei Neueinstellungen für 2 Jahre.
In einer nicht ganz neuen, aber noch aktuellen Studie von 2014 (https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/178184/befristete-beschaeftigung) ist in einer Grafik dargestellt, dass von 2004 bis 2012 die atypischen (wie es dort genannt wird) oder die befristen Beschäftigungen an allen Neueinstellungen in Deutschland immer zwischen 40 und 50 % lagen (s. dazu nächste Grafik):
Die Zahlen dieser Grafik werden auch durch neuere Erhebungen bestätigt: „45 Prozent der neu eingestellten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und damit fast jeder Zweite hat im vergangenen Jahr (2016 Seb. Sol.) nur einen befristeten Arbeitsvertrag erhalten. Das berichten die Rheinische Post und der Bonner General-Anzeiger unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion.“ [https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-09/arbeitsvertraege-befristet-neue-mitarbeiter-unternehmen]
„Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Befristungsquote im Mittelfeld und unter dem EU-Durchschnitt. Besonders hoch sind die Befristungsquoten in Polen, Spanien und Portugal, wo sie einen Großteil der atypischen Beschäftigung ausmachen.“ (zitiert nach oben genannten bpb-Studie). Die Studie verweist auch darauf: „Befristete Neueinstellungen sind in öffentlichen Einrichtungen und bei sozialen Dienstleistungen der Regelfall.“ – Daran kann man gut erkennen, dass dieses Instrument der Befristung von Arbeitsverhältnissen kräftig zum Einsparen genutzt wird, es wird an Abfindungen gespart und an Lohn. Dazu nochmals die bpb-Studie: „Auch die Einkommenssituation stellt sich negativ dar. Niedriglöhne sind in Deutschland besonders bei befristet Beschäftigten verbreitet. 40,9 Prozent (2001: 31,9 Prozent) aller befristet Beschäftigten in Deutschland arbeiten für einen Niedriglohn von unter 9,14 Euro pro Stunde. Seit 2001 hat sich das Risiko, für einen Niedriglohn zu arbeiten bei befristet Beschäftigten besonders stark erhöht. Insgesamt arbeiteten 2011 23,9 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn. Da befristet Beschäftigte nur für einen bestimmten Zeitraum bei einem Unternehmen beschäftigt sind, profitieren sie häufig nicht von Gehaltszuwächsen aufgrund von Betriebszugehörigkeit, die in vielen Tarifverträgen vorgesehen sind.“ Auch bei der Weiterbildung wird gespart: „Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag nahmen im Jahr 2012 seltener (46 Prozent) an betrieblichen Weiterbildungen teil als unbefristet Beschäftigte (51 Prozent).“
Wer nach einem Grund für Angst und Verunsicherung in der westlichen Industriewelt sucht, der stolpert förmlich über dieses Problem der prekären Beschäftigung. Natürlich ist eine prekäre Beschäftigung besser als gar keine, also als Arbeitslosigkeit. Darauf weist auch die hier häufig zitierte bpb-Studie hin: „Die meisten Beschäftigten arbeiteten nicht freiwillig befristet und wünschen sich lieber eine Daueranstellung. Während für Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen weitreichende Kündigungsschutzregelungen gelten, leiden befristet Beschäftigte unter erhöhter Beschäftigungsunsicherheit, die auch ihre Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern schwächt. Diese Beschäftigungsunsicherheit führt dazu, dass sich befristet Beschäftigte weniger gut in die Gesellschaft integriert fühlen als Arbeitnehmer mit unbefristeten Arbeitsverträgen. Die Wahrnehmung der sozialen Integration liegt bei befristet Beschäftigten jedoch höher als bei Arbeitslosen.“
Die Frage, ob befristete oder prekäre Arbeitsverhältnisse wirklich in diesem Ausmaß, wie wir gesehen haben, notwendig sind oder ob sie dem „bösen“ Kapitalismus oder einer „ungerechten“ Politik geschuldet sind, ist schwierig zu beantworten. Seit den 70er/80er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben wir es durch die Globalisierung mit einem permanenten Strukturwandel zu tun. Industrien – und das betrifft nicht nur die Textil- und Stahlindustrie – werden aus Hochlohn-Industrieländern in Niedriglohn-Entwicklungsländer verlagert. Das allein schon übt einen ständigen Druck auf die Löhne und die Arbeitsverhältnisse in den Industrieländern aus. Gleichzeitig gibt es Gewinner der Globalisierung, das sind unter anderem die Besitzer der ausgelagerten Industrien. Aber auch die in dem Industrieland verbliebenen Verbraucher können teilweise als Gewinner gelten, denn sie können jetzt die Produkte günstiger kaufen. Es sei denn, sie haben ihren Arbeitsplatz verloren und besitzen nun nicht die finanziellen Mittel, um die günstigeren Produkte aus dem Ausland zu erstehen. – Man sieht, wie eng Gewinner und Verlierer beieinanderliegen.
Prekäre Beschäftigung ist vielleicht nicht das einzige Problem auf ökonomischem Gebiet, dazu kommen abnehmende Tarifbindung, ein ausgedehnter Niedriglohnsektor und permanente Strukturveränderungen in der Wirtschaft. In solch einem Umfeld von Unsicherheit braucht es nur solche Erscheinungen wie verstärkte Migration, um bei einigen Menschen Unsicherheit in Angst umschlagen zu lassen.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
[…] BIP-Wachstum in den OECD-Ländern 1960 – 2018“ in dem Beitrag vom Oktober 2019 [Link:] „Woher kommen die derzeitige Unsicherheit und Angst in der Welt?“ Freilich sind die Wirtschafts-Wachstumsraten nicht unbedingt allein aussagefähig, denn […]
[…] es sich lohnt, sich mit ihnen gründlicher auseinanderzusetzen. Das ist in meinen Blogbeiträgen „Woher kommen die derzeitige Unsicherheit und Angst in der Welt“ und die „Die goldenen Zwanziger – oder doch nicht so golden?“ bisher geschehen. Dieser […]