Ohne Zweifel, die wirtschaftliche und politische Entwicklung in der Welt vollzieht sich neben kurzfristigen auch in langfristigen Wellen. Solche langfristigen Wellen kennt man u.a. in der Produktivitätsentwicklung. Der sowjetische Ökonom Kondratjew stellte 1926 die These auf, dass sich neben den kurzen kapitalistischen Konjunkturzyklen auch lange Zyklen herauslesen lassen, die sich auf Innovationen gründen und die etwa 40 bis 60 Jahr dauern. Zum Beispiel wurde der erste Kondratiew-Zyklus durch die Dampfmaschine und Veränderung in der Baumwollverarbeitung (Textilmaschine) zu Beginn 1800 bestimmt und dauerte ungefähr bis 1850.
Mir scheint, auch in der politischen/wirtschaftlichen Entwicklung gibt es solche langfristigen Zyklen. Die gegenwärtige Phase hat doch viel mit der Periode zwischen den beiden Weltkriegen gemein, insbesondere bezogen auf das Erstarken des Rechtspopulismus und des Nationalismus in den Industriestaaten. Interessanterweise ist aber in der ganzen Welt ein Abnehmen von politischen Freiheitsrechten seit etwa 2005 zu beobachten, worauf ein Artikel von Henrik Müller im manager magazin (November 2019, S. 124) hinweist. In einer Grafik zieht er die Erhebungen des unabhängigen US-amerikanischen Institutes Freedom House zu Rate. Dieses Institut bewertet einzelne Länder nach dem Grad der Freiheitsrechte, die ihren Bürgern gewährt werden (dazu gehören nicht nur Parlamentswahlen, sondern auch bürgerliche Rechte wie Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit usw.) Für die einzelnen Länder werden Punkte ermittelt, und entsprechend dieser Punkte werden die Länder in drei Kategorien eingeordnet: freie Länder, teils freie Länder und unfreie Länder. Interessant ist nun, dass seit 1973 diese drei Kategorien beobachtet werden und sich eine Grafik ergibt (s. nächste Grafik):
Demnach haben sich von 1973 bis etwa 2005 die Freiheitsrechten in der Welt verbessert, und seitdem stagnieren sie oder verschlechterten sich. In seinem jährlichen Bericht Freedom in the World musste deshalb das erwähnte Institut feststellen: „Freedom in the World verzeichnete von 2005 bis 2018 in alarmierenden 13 aufeinander folgenden Jahren einen weltweiten Rückgang der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten. Der weltweite Durchschnittswert ist jedes Jahr gesunken, und Länder mit einem Rückgang des Nettowerts sind denjenigen mit Nettoverbesserungen durchweg überlegen.“ – Ganz ohne Zweifel spielen dabei auch die USA, als Weltpolizist und größte Wirtschaftsmacht eine Vorreiterrolle, denn wenn sie unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung illegale Aktionen starten, so meinen andere, autokratisch regierte Staaten, dass sie das auch dürfen.
Doch es muss ökonomische Gründe für eine Verschlechterung des politischen Weltklimas geben. So war es ja auch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, zumindest am Ende der zwanziger Jahre mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise.
Was könnten ökonomische Gründe für die Verschlechterung des politischen Weltklimas im letzten Jahrzehnt sein?
An den Wirtschaftswachstumsraten in der Welt kann es nicht liegen, oder allein nicht liegen, denn die haben sich in den letzten 60 Jahren kaum deutlich verändert (s. dazu die Grafik „reales BIP-Wachstum in den OECD-Ländern 1960 – 2018“ in dem Beitrag vom Oktober 2019 [Link:] „Woher kommen die derzeitige Unsicherheit und Angst in der Welt?“ Freilich sind die Wirtschafts-Wachstumsraten nicht unbedingt allein aussagefähig, denn Wirtschaftswachstum kann auch durch steigende Bevölkerung verursacht sein, auf die der Erfolg des Wirtschaftens dann verteilt werden muss. In diesem Fall ist die Steigerung der Produktivität aussagefähiger. Dabei werden Bevölkerungsgröße (genauer der Anteil der Beschäftigten/Beschäftigtenstunden) zum Output der Wirtschaft in Beziehung gesetzt. Für die OECD-Länder als ganzes (die alle Industriestaaten enthalten) gibt es erst seit 2000 statistisches Material. Für die G7-Länder (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Kanada, USA, Japan) hingegen steht seit 1971 statistisches Material bereit. (s. nächste Grafik)
Es zeigt sich ein Bild, das Ökonomen schon lange diskutieren: Warum sinkt in den Industriestaaten die durchschnittliche Arbeitsproduktivität seit den 1970er Jahren (eigentlich gilt das schon seit den 1950er Jahren) ständig? Wir haben doch die Segnungen des Computers und des Internets!
Der Wachstumsforscher Robert Gordon aus den USA meint dazu:
„Die Wachstumseffekte von Innovationen laufen nach und nach aus. Nehmen Sie zum Beispiel die Tatsache, dass wir dank Heizung und Klimaanlage heute die Raumtemperatur überall ganzjährig bei 22 Grad stabilisieren können. Die dadurch erzielten Produktivitätszuwächse lassen sich nicht wiederholen. Auch die Einbindung der Frauen ins Erwerbsleben, die das Wachstum der Pro-Kopf-Einkommen angekurbelt hat, lässt sich nicht wiederholen. Ähnlich sieht es bei der Verkürzung der Transportzeiten durch Flugzeuge aus. Wir bewegen uns heute nicht schneller in der Luft als im Jahr 1958. Die Wachstumsimpulse durch die großen Innovationen der zweiten industriellen Revolution sind abgeschlossen. Seit 1970 gehen die Wachstumsraten der realen Pro-Kopf-Einkommen zurück.“ [Wirtschaftswoche WiWo v. 4.2.3013 Nr. 6, S. 36/37]
Ob das so ist, und was die Gründe dafür sind, ob das Abflachen der Wachstumsraten in der Produktivität nur eine zeitweise Erscheinung ist, oder ob sie eine generelle Abflachung der Wachstumsraten ankündigen, ob nicht auch statistische Messfehler eine Rolle spielen, darum ist in der ökonomischen Literatur eine heiße Debatte entbrannt. Natürlich spielt da auch hinein, dass sich die modernen Industriestaaten von Industriegesellschaften zu Dienstleistungsgesellschaften wandeln. Das heißt, immer weniger Arbeitsplätze sind in der unmittelbaren Industrie vorhanden. Dafür nimmt die Wertschöpfung des Dienstleistungssektors zu, in dem die Arbeitsproduktivität weniger schnell gesteigert werden kann als in der Industrie.
Doch hier soll diese Debatte nicht vertieft werden, sondern es geht darum, dass sinkende Produktivität auch einen Einfluss auf den Lebensstandard des Einzelnen hat. Es ist, geradezu gesagt, einfach weniger da, das aus dem wirtschaftlichen Erfolg verteilt werden kann. Damit soll nicht Beruhigungsparolen das Wort gesprochen werden, in dem Sinne „Bescheide Dich, es ist ja weniger da!“, aber für die Gesellschaften als Ganzes stellt es schon ein Problem dar. In den letzten Jahrzehnten waren die Gesellschaften in den Industriestaaten gewohnt, dass der Lebensstandard kontinuierlich gestiegen ist. Welche Auswirkungen es hat, wenn der Lebensstandard nicht mehr steigt, wenn er stagniert, wenn in ganzen Regionen die Arbeitsplätze wegbrechen, das kann man in den USA studieren, oder in Italien. Trump oder die Stärke von Lega Nord in Italien kommen doch nicht zufällig oder von ungefähr.
Freilich hat die menschliche Gesellschaft auch schon vor uns, über Jahrhunderte, mit beinahe gleichbleibendem Lebensstandard existiert, ohne dass gleich dem Nachbarn die Keule auf den Kopf geschlagen wurde. Aber Progrome, Kreuzzüge künden davon, dass es auch Blitzableiter für Unzufriedenheit gab und dass Menschen in größeren Notzeiten zu kriegerischen Auseinandersetzungen eher bereit waren. So gesehen, kann man nur hoffen, dass wir die augenblicklich ökonomisch schwierigeren Zeiten ohne größere Blessuren überstehen.
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[…] meinen Blogbeiträgen „Woher kommen die derzeitige Unsicherheit und Angst in der Welt“ und die „Die goldenen Zwanziger – oder doch nicht so golden?“ bisher geschehen. Dieser dritter Blogbeitrag soll sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen, […]