erschienen ist: „Für Deutschland ist der Brexit verheerend“. Soll aber auch verständlich sein, ohne
ihn zu kennen!]
Der Brexit ist natürlich eine ziemliche Ohrfeige für die EU, das unbestritten. Was mich aber sehr erstaunt, sind die französischen Ressentiments, die der Autor zeitlich bis auf Richelieu zurückverfolgt. Da muss man sagen, dieses Gefühl des Grolles muss wirklich tief sitzen. Oder hängt das damit zusammen, dass Frankreich unser wirklicher Nachbar ist – und nicht Großbritannien, wie der Autor, etwas überraschend, behauptet – und Nachbarschaft ja immer Reibung erzeugt?
Auf alle Fälle zeigt sich Hans-Werner Sinn gegenüber Großbritannien viel weitherziger. Da ist keine Verfehlung der EU zu gering, um den Brexit nicht zu rechtfertigen. Deutschland sollte sogar von Plänen für eine Vertiefung der EU Abstand nehmen, Großbritannien als Partner betrachten (daher kommt bei Sinn wahrscheinlich der Ausdruck Nachbar) und sich auf den Freihandel in Europa beschränken.
Mal ganz abgesehen davon, dass Großbritannien seitdem es in der EU ist, nie ein echter Partner von Deutschland für die EU war, sondern immer recht nationale Eigenwilligkeiten gepflegt und durchgesetzt hat, wirft Sinn in seinem Artikel eine Grundfrage für die Zukunft auf: Wie weiter mit der EU, nun ohne Großbritannien, der bisher zweit stärksten Wirtschaftsnation in der Union?
Einfach zusammengefasst würde ich, abgewandelt mit Heinrich Heine, sagen: „Um die EU fürcht’ ich nicht so sehr, wenn nicht der Euro dorten wär’.“ Prosaischer: Die Integration in Europa wird weitergehen, weil es ganz einfach keinen anderen Weg gibt, auch wenn sie zeitweise stagniert oder Rückschläge erleidet (s. Brexit). Ob das auch für das etwas leichtfertige oder vorschnelle Projekt des Euros gilt, steht auf einem anderen Blatt.
Dass der Euro das schwächste Glied in der Kette ist, sieht man schon daran, dass die politischen EU-Gegner und die Afrika-Hilfsverweigerer sich ihn als ersten Angriffspunkt ausgesucht haben. Und er steht tatsächlich auf wackligen Füßen, trotz seiner Vorteile als Gegengewicht zum US-Dollar, Yen oder Yuan und als verbindendes Gefühl in Europa, wir gehören doch zusammen – manche sehen nur den Vorteil fester Kurse im Euro-Raum, das wäre aber zu kurz gegriffen. Vor allem machen dem Euro wirtschaftliche Ungleichgewichte zu schaffen, wie ungleiche Verschuldung, ungleiche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, unterschiedliche Handelsbilanzen. Innerhalb eines Landes wäre das kein Problem, aber solange man getrennte nationale Buchführung hat und auch nationales Haushaltsrecht und damit Verteilungsrecht nicht an eine zentrale Stelle abgibt, bleibt das ein Problem, ein viel schwerwiegenderes als sich vielleicht die Gründungsväter des Euros vorstellen konnten. Man hat schon 2010 und 2012 gesehen, als es wegen solch eines kleinen Landes wie Griechenland zur Eurokrise kam, wie die Köpfe der Politiker rauchten, um den Euro-Laden nicht implodieren zu lassen. Wie würde es erst mit Italien, dem drittgrößten Land in der Eurozone, aussehen, das mit seiner Staatsverschuldung von etwa 130 % an der Schwelle zum Stolpern steht. Was mit den italienischen Verbindlichkeiten machen, einfach mal so abschreiben? Italien kommt aus den Kalamitäten nicht heraus. Es ist wie ein finanzsaugender Schwamm, den auch ein Renzi nicht ausdrücken konnte.
Dem Euro drohen aber noch von einer anderen Seite her Schwierigkeiten, dem nicht ausgestandenen Streit, vor allem unter Ökonomen, zur Austeritätspolitik in den Euro-Staaten. In der Regel verschlimmert man in einer starken, plötzlichen Krise noch die Probleme, wenn man staatlicherseits sparen will. So hat die deutsche Regierung wie auch andere Staaten zur Finanzkrise 2008/2009 den Schuldenhahn weit aufgedreht, um einem volkswirtschaftlichem Crash zu vermeiden. Und es war richtig so. Abgesehen davon, dass die Regierungen auf Grund von neoliberalen Einflüsterungen vorher die Krise möglich gemacht haben (zu wenig Eigenkapital der Banken usw.) Dennoch, es blieb richtig, wie sie sich dann verhielten, eben auch, weil es noch Spielräume gab. Nun meinen vor allem die südeuropäischen Euro-Länder, die im Augenblick in einer Dauerkrise stecken, dass sie auf keinem Fall sparen können, weil sie ja aus der Krise heraus müssen. Die ganze Meinung stützt sich auf den Ökonomen Keynes. Der hat fiskalische Zusatzausgaben des Staates als Heilmittel gegen eine plötzliche starke Krise verschrieben. Allerdings hat er nichts dazu gesagt, wenn ein Staat schon hoch verschuldet ist. Das war damals vor 80 Jahren kein Thema. Den erwähnten Euro-Süd-Staaten wird nun von den Euro-Nord-Staaten mit Deutschland als Geber an der Spitze gesagt, ihr müsst zwei Probleme auf einmal lösen, ihr dürft euch nicht weiter verschulden und ihr müsst Reformen anpacken. Fast zu viel für normale Politiker, die sowieso nur ungern sparen möchten, weshalb sie sagen, wenn wir sparen müssen, kommen wir auch nicht aus der Krise heraus. Tatsächlich besteht nun im Euro-Raum die ernste Gefahr, dass Staaten, die ordentlicher gewirtschaftet haben, für diejenigen aufkommen sollen, die in der Vergangenheit geschludert haben. Sinn weist nicht zu Unrecht auf die Gefahr hin, dass die Euro-Südstaaten die Euro-Nordstaaten überstimmen könnten, mit dem möglichen Ergebnis, dass Leistungsträger des Euro-Raumes das Handtuch werfen. Bezüglich Haushaltsdisziplin steht Deutschland wirklich näher zu Großbritannien als zu Frankreich, und von der Seite her, wäre es gut gewesen, Großbritannien im Euro-Raum zu haben.
Das Leben ist aber kein Wunschkonzert, und Frankreich ist nach wie vor im Euro-Raum. Die Vergangenheit hat zudem gezeigt, immer, wenn die französisch-deutsche Achse funktionierte, ging es in der EU oder im Euro-Land weiter. In den letzten Jahren lief es nicht so hervorragend, doch was nicht ist, kann ja wieder werden.
Die EU nur vom ökonomischen Standpunkt zu betrachten ist zu einseitig, sie hat auch eine politische Komponente Das Schlimme daran ist ja gerade, dass sich die EU-Staaten manchmal auch politisch nicht einigen können. Hier liegen noch etliche Aufgaben vor den Politikern.
Zum Beispiel war bisher ein Defizit, dass die zentrale Entscheidungsebene der EU zu wenig volksverbunden war, oder anders gesagt, sie hatte ein Demokratiedefizit. Natürlich wurden die Abgeordneten des EU-Parlamentes in allgemeinen, geheimen Wahlen in Europa gewählt. Aber auf der Ebene, wo die harten Entscheidungen stattfanden, wer wird Kommissionspräsident, kungelten die Staat- und Regierungschefs solange, bis sie sich auf einen Vertreter einigen konnten. Dementsprechend hatte auch der Kommissionspräsident die meiste Angst vor der Meinung des Europäischen Rates, dort sind ja die nationalen Premiers versammelt, und nicht von der Meinung der EU-Völkerschaften. Bei der letzten Europawahl hat es mit dem Superkandidaten-Prozedere eine Verbesserung gegeben, nun wurden die möglichen Kandidaten für den Kommissonsvorsitzenden vor der Wahl gleich mit benannt und die Regierungsobersten können nur unter ihnen wählen. Aber immer noch besteht eine starke Abhängigkeit des Kommissionspräsidenten von den nationalen Fürsten. Das ist so, als würden in Deutschland die Ministerpräsidenten der Bundesländer Frau Merkel zur Chefin bestimmen und nicht letztlich, wenn auch über den Parteienweg, das Volk.
Ein weiterer Malus in der EU besteht bei den Finanzen. Die EU-Zentrale erhält Gelder von den nationalen Regierungen und verteilt sie dann, gleichwohl mit Zustimmung des Parlamentes und so weiter. Die EU-Behörde erhebt selbst keine Steuern. Würde sie das aber tun, würde nicht nur ihre Eigenständigkeit gestärkt, es würde ebenso das Gefühl, dass Deutschland und einige andere gut gemanagte Staaten die Zahlmeister der EU und andere die Handaufhalter sind, leichter verschwinden. Denn es ist ja klar, dass man Steuern nur zahlen kann und muss, wenn auch Einkommen oder Vermögen da ist. Stelle man sich vor, wie unser föderales System in der Bundesrepublik kränkeln würde, wenn die Bundesländer nur Geld vom Bund erhielten, oder gar umgekehrt, der Bund finanziell bloß auf die Bundesländer angewiesen wäre. So merkwürdig das klingt, mit eigenen Steuern würde die EU-Zentrale eine echte Behörde werden, wie ein Staat. – Auf keinem Fall sollten es zusätzliche Steuern sein!
Für solche Aufgaben wie die genannten sind Politikern vonnöten, die nicht nur geradeaus fahren, sondern nächste Jahrzehnte im Auge haben und eine langfristig-strukturelle, von den Notwendigkeiten des Tages befreite Politik betreiben, wie Hans-Werner Sinn das treffend ausdrückt.
Gibt es heute noch solche Politiker? Nehmen wir mal Angela Merkel. Weitblick war nie ihre Stärke. Ihre Stärke liegt woanders: Sie ist Pragmatikerin und sie ist nicht starrsinnig. Das hat ihr immer geholfen, nach einigen Irrungen doch noch den richtigen Weg zu finden und einzuschlagen. Letztes Beispiel, nach den unsäglichen Kriegen in Afghanistan und Irak, die sie sich hergegeben hat, zu unterstützen, hat sie nun begriffen, dass man sich um Afrika und um die arabischen Länder kümmern muss, sonst erwächst Europa, einschließlich Deutschland, ein echtes, ewiges Problem in Bezug auf Flüchtlingsströme und Terrorismus. Auf diesem Gebiet liegen auch die nächsten, ganz natürlichen Aufgaben der EU (und Deutschlands Wirken in dieser). Das Immigrationsrecht muss in Europa vereinheitlicht werden. Die Flüchtlinge müssen wissen, dass sie nur wirklich ein Chance haben, von Europa aufgenommen zu werden, wenn sie politisch verfolgt werden. Und außerdem gilt es, eine Einwanderungsmöglichkeit zu schaffen, nicht nur für IT-Fachleute, sondern für gut Qualifizierte, die in Europa gebraucht werden. Das könnte mit dazu beitragen, dass ein Streben nach Bildung in den Flüchtlingsstaaten unterstützt wird. Natürlich wäre es besser, die gut Qualifizierten würden in ihren Ländern bleiben und dort zur Entwicklung beitragen. Solange aber in Europa klar ist, dass die Flüchtlingsländer bei Bildung und Entwicklung unterstützt werden müssen, kann man eine solche Notlösung billigen. Mal sehen, mit welchem Weitblick und Pragmatismus – denn beides ist erforderlich – ein nächster, evtl. neuer Bundeskanzler diese Aufgaben umsetzt.
Bisher hat die NATO die Sicherheit in Europa gewährleistet. Mit den neuen, erpresserischen Tönen aus den USA, müssen wir wahrscheinlich teilweise selber dafür sorgen. Sofort hat Frau von der Leyen Morgenluft gewittert und bereits mehr Geld für Rüstung verlangt. Gegen eine effizientere Armee und -organisation wäre dagegen nichts einzuwenden, und gerade das könnte im Rahmen der EU passieren. Letztlich gilt auch bei der EU-Integration: Das Leben gibt selbst die Töne vor, und man muss sich nur noch bemühen, dazu eine Melodie zu finden.