Natürlich ist dieses Thema viel zu umfangreich, als dass es in diesem kleinen Artikel umfassend behandelt werden könnte. Aber eine wichtige Komponente soll hier erörtert werden.
Mit dem Niedergang des real existierenden Sozialismus und seinen offenkundigen Nachteilen hat in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Welt eine Diskussion eingesetzt, wie man Teile des Kapitalismus bzw. ihn selbst produktiv für ein ganzes Land machen kann. Man könnte auch so fragen: Wann ist der Kapitalismus erfolgreich und macht nicht nicht nur Einzelne reich, sondern bringt Wohlstand für viele Einwohner?
Manche Wissenschaftler, besonders diejenigen, die den Kapitalismus und seine Schattenseiten ablehnen, meinen, man müsse Elemente der Marktwirtschaft in ein neues System einbinden, andere denken, dass es notwendig sei, den kleinen und mittleren Unternehmer zu belassen und nur gegen die Großkonzerne vorzugehen.
Die Journalistin Ulrike Herrmann hat in ihrem populärwissenschaftlichen Buch „Der Sieg des Kapitals“ herausgestellt, dass den modernen Kapitalismus eine enge Verzahnung zwischen Wirtschaft und Staat prägt. Man kann also nicht mal so einfach Elemente herausnehmen und woanders einbauen. Sie stellt sogar die These auf: „Wie erzeugt man Wachstum in der Realwirtschaft? Obwohl es viele Neoliberale nicht glauben wollen: durch den Staat.“ (Ulrike Herrmann: Der Sieg des Kapitals, Westend-Verlag 2013, S. 232) Herrmann meint das sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne. In der Krise kann der Staat durch Geldausgeben die Wirtschaft wieder ankurbeln, gleichfalls ist der Staat auch ein wichtiger Faktor bei der Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft.
Neoliberale Vordenker wie Milton Friedman, ein US-amerikanischer Nobelpreisträger-Ökonom, würde die Hände über den Kopf zusammenschlagen und sagen, der Staat? Er ist doch nur Schiedsrichter an der Seitenlinie und hat sich in erster Linie um die Einhaltung der Verträge zu kümmern. (Friedman 1975: „Wir sind seit Jahrzehnten dabei, die Rechtsstaatlichkeit langsam aber sicher zu zerreißen, weil sich die Regierung mehr und mehr in die wirtschaftlichen Angelegenheiten einmischt, anstatt in erster Linie Regeln zu schaffen, Schiedsrichter zu sein und private Verträge zu schützen.“ Zitiert aus Milton Friedman: Es gibt nichts umsonst. Verlag Moderne Industrie 1979, S. 127 – Im Einzelnen hatte Friedman zu diesem Zeitpunkt in seiner Polemik gegen den US-Staat sogar Recht, denn er zog gegen Lohn- und Preiskontrollen der Nixon-Administration 1971 zu Felde!)
Aber so einfach ist es eben doch nicht mit dem Staat und der Wirtschaft. Es reicht eben auch nicht aus, was linke Kräfte häufig glauben, dass es vom Staat lediglich notwendig sei, „Gerechtigkeit“ in der Gesellschaft, meist über Umverteilung, herzustellen, und dann liefe schon alles. (Auch wenn Gerechtigkeit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht unwichtig ist!). Der Staat muss auch innovativ sein!
Nehmen wir mal als Beispiel die beiden westafrikanischen Staaten Elfenbeinküste und Ghana. Diese Länder erzeugen die Hälfte der Rohkakaoproduktion der Welt. Aber von der Wertschöpfungskette des Kakaos verbleibt in ihren Ländern etwa 6 Prozent, weil sie nur die Kakaobohnen exportieren und nicht das Endprodukt die Schokolade oder das Kakaopulver. Von ihren Einnahmen können die Rohkakaoproduzenten in Westafrika kaum leben. Das zu verändern stehen mehrere Schwierigkeiten im Wege. Einmal handelt es sich in Westafrika um Kleinbauern, die also zersplittert sind, und die wenigen mächtigen Händlern und Verarbeitern gegenüberstehen. (Man sagt, dass nur acht Händler und Verarbeiter ca. 3/4 des weltweiten Kakaohandels kontrollieren.) Zum anderen bestehen Zollschranken in den westlichen Ländern: Unverarbeiteter Kakao unterliegt oft keinem Zoll, bei der Einfuhr von Schokoladenprodukten aber muss ein Einfuhrzoll von bis zu 30,6 % des Warenwertes bezahlt werden. (Das zum Thema fairer Handel und Entwicklungshilfe!)
Wie und wer soll die Situation aufbrechen? Die Kleinbauern können es im wesentlichen nicht. Und dass ein ausländischer Investor kommt und eine Schokoladenindustrie in den beiden Ländern aufbaut, wird auch nicht passieren, denn dazu ist die Situation für die ausländischen Schokoladenhersteller zu komfortabel und ihre Marktmacht zu groß, zudem sie noch von ihren eigenen Regierungen geschützt werden. Etwas ändern kann eigentlich nur der Staat in den westafrikanischen Ländern. Von ihm muss der Hauptimpuls kommen. Das hat die Geschichte vieler erfolgreicher Länder gelehrt. Dazu darf er aber nicht korrupt und die Staatsbeamten dürfen nicht nur auf die die eigenen Vorteile bedacht sein, sondern der Staat muss innovativ handeln. Er könnte das Zusammenschließen der Kleinbauern zu Kooperativen fördern, oder die Initiative von Verbrauchern aus westlichen Ländern für fairen Handel bei Kakaoprodukten als Ansatz nutzen, um peu à peu eine eigene Kakaoindustrie, die nicht unbedingt eine staatliche sein muss, aufzubauen. Die Elfenbeinküste ist seit 1960 unabhängig, aber immer noch gibt es eine Analphabetenrate unter der Bevölkerung von 43%. 58 Jahre nach der Unabhängigkeit, das ist viel zu hoch! (Auch wenn Eliten des Landes als gut ausgebildet gelten.) Sicher erschweren die 60 Volksgruppen und mehrere Landessprachen eine schnelle und einheitliche Bildung der Bevölkerung. Dazu kam noch ein Bürgerkrieg 2002, weil dem Land durch das Fallen der Kakaopreise auf dem Weltmarkt die Einnahmen wegbrachen. Stammesdenken ist bei dieser hohen Zahl von Ethnien meist verbreitet und führt zu Zwistigkeiten. Die Schwierigkeiten scheinen fast unüberwindbar. Und dennoch, ein Land einen und wirtschaftliche Entwicklung anstoßen, kann nur der Staat.
In den Industrieländern ist man natürlich über die ersten wirtschaftlichen Anstöße durch den Staat hinaus. Das spielte dort im 17. und 18. Jahrhundert eine Rolle, als die Fürsten und Monarchen Manufakturbetriebe ins Land holten oder ihre Ansiedlung stimulierten. Aber auch heute noch sind Anstöße wirtschaftlicher Art durch den Staat notwendig. In diesem Zusammenhang interessant ist ein Interview mit Peter Altmaier, der seit der neuen Großen Koalition das Wirtschaftsministerium führt (Der Spiegel. Nr. 14 v. 31.03.2018).
Der Wirtschaftsminister spricht dort von einer strategischen Wirtschaftspolitik: „Die langfristige Sicherung der Industrie vor allem durch Innovationen gehört zu jenen Fragen, die nicht allein vom Markt gelöst werden können. Ich orientiere mich nämlich nicht nur an Erhard und Adenauer, sondern auch an Franz Josef Strauß. Wenn der als Finanzminister nicht die Initiative ergriffen hätte, aus der kleinteiligen europäischen Flugzeugindustrie den Airbus-Konzern zu schmieden, hätte Europa nie zu den US-Konkurrenten Boeing und McDonnell Douglas aufschließen können.“
Altmaier redet dann im Interview davon, dass er im Jahre 2012 als Umweltminister ein gemeinsames Zusammengehen aller europäischen Fotovoltaikproduzenten vorgeschlagen hatte, um auf die Herausforderung durch die Konkurrenz aus China zu reagieren. Sein Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe. Das Ergebnis: Heute hat kein einziger bedeutender europäischer Anbieter überlebt. Der Interviewte meint, das sollte nicht noch einmal passieren. Jetzt denkt er, dass Europa dringend eine Batteriezellenproduktion braucht. „Hier werde ich Gespräche aufnehmen, um zu gemeinsamen Initiativen der Industrie zu kommen. Und wir müssen dafür sorgen, dass nicht sämtliche europäischen Spitzenforscher, die auf dem Feld der künstlichen Intelligenz unterwegs sind, einen Arbeitsvertrag mit Google abschließen.“
Der Leser sieht, das, was in der Elfenbeinküste und Ghana notwendig ist, dass sich die Regierungen überlegen, wie sie die Schokoladenproduktion oder mindestens einen Teil davon ins eigene Land holen, passiert jeden Tag in den Industriestaaten. Die Regierungen planen ihre strategische Wirtschaftspolitik und tüffteln, wie sie die umsetzen können. Hier gibt es eine Verzahnung zwischen Wirtschaft und Staat, die linke Politiker oft übersehen.
Das hat nichts damit zu tun, dass an die Unternehmen auch Forderungen gestellt werden müssen, bezüglich Umweltauflagen, Steuern und Abgaben. Und die strategische Wirtschaftspolitik darf auch nicht in eine Kungelei zwischen Politik und Unternehmen führen, ebensowenig in eine Bevorzugung einzelner Unternehmen durch den Staat. Eigentlich gilt für die Beziehung zwischen Staat und Unternehmen im Kapitalismus das, was Alt-Bundeskanzler Schröder in Bezug auf die Hartz-IV-Bezieher und auf Arbeitslose sagte: fordern und fördern.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
[…] vorliegende Blogbeitrag schließt sich an dem Blogbeitrag vom Mai 2018 an: Wie wird ein Land durch den Kapitalismus reich?, jedoch aus einem anderen […]