Völlige Gleichheit in einer Gesellschaft ist utopisch und auch gar nicht wünschenswert, denn es würde auf Gleichmacherei hinauslaufen und die Gesellschaft lähmen. Fast niemand würde sich mehr anstrengen, Leistung würde sich nicht lohnen. Aber davon sind die allermeisten Gesellschaften dieser Erde meilenweit entfernt. Es ist sogar eher umgekehrt. In vielen Gesellschaften besitzen einige wenige sehr viel – und die anderen können sich noch so anstrengen, sie werden kaum ihre Lebenslage verbessern. Ziemlich am Anfang des Buches bringt der Autor zwei Grafiken für die USA und für Großbritannien, die die wachsende Ungleichheit seit Beginn der 80er Jahre für diese beiden Länder belegen, unter anderem anhand des wachsenden Einkommensanteils für das reichste 1 Prozent der Bevölkerung. Von den fünfziger bis siebziger Jahren waren die kapitalistischen Industrie-Gesellschaften viel ausgeglichener. Erst mit dem Einzug des Neoliberalismus in vielen führenden Industriestaaten zu Beginn der achtziger Jahre änderte sich das (s. dazu auch meinen Blogbeitrag „Die ökonomischen Grundlagen des Neoliberalismus“). Neoliberalismus ist aber nicht das Thema von Atkinson, sondern, wie man der wachsenden Ungleichheit begegnen kann.
Muss man dem Mainstream folgen, oder kann man auch gegen den Strom schwimmen? Das sind z.B. Fragen, die den Buchschreiber bewegen. Er belässt es aber nicht bei solchen allgemeinen Fragen, sondern erörtert detailliert 15 Vorschläge, die den Trend zu mehr Ungleichheit aufhalten oder sogar umkehren könnten, ohne gleich die gesamte Gesellschaft umzugestalten. Ein Vorschlag (Vorschlag 3) von ihm ist zum Beispiel: „Der Staat sollte sich ein explizites Ziel zur Verhinderung und Verminderung von Erwerbslosigkeit setzen und seinen politischen Willen unter Beweis stellen, indem er den Menschen, die Arbeit suchen, einen garantierten öffentlichen Arbeitsplatz zu einem Mindestlohn anbietet.“ (S. 183)
Wie Atkinson dann weiter ausführt, kann der Arbeitslose in einer staatlichen Institution oder in einer anerkannten gemeinnützigen Organisation beschäftigt werden, wohlgemerkt zum Mindestlohn und zu einer begrenzten Wochenstundenanzahl. Wenn man diese begrenzte Wochenstundenanzahl mit dem Mindestlohn multipliziert, müsste der Hartz-IV-Empfänger mindestens soviel an finanziellen Leistungen erhalten wie vorher, aber jetzt bekäme er sie für eine Tätigkeit.
Ich halte diesen Vorschlag für sehr sinnvoll, denn es hat mir noch nie eingeleuchtet, dass Arbeitslose bzw. Hartz-IV-Empfänger Leistungen beziehen, ohne dafür Leistungen an die Gesellschaft zurückzugeben. Und außerdem würde damit gleichzeitig dem Gefühl, dass sich Menschen in Arbeitslosigkeit nutzlos vorkommen, begegnet. Eigentlich heißt es ja immer, Arbeit ist genug da, nur an genügend bezahlbarer Arbeit fehlt es. Für Hartz-IV-Empfänger sollte eben solche bezahlbare Arbeit geschaffen werden, das müssten uns Mitglieder unserer Gesellschaft schon wert sein. Atkinson meint dazu: „Die Verwaltung dieses Programms wäre ziemlich schwierig, aber unser zunehmend komplexen Verhältnisse führen unvermeidlich dazu, dass wir uns nicht mehr auf simplen Einstufungen verlassen können, ein Umstand, der (…) die Betriebskosten sozialer Institutionen erhöht.“ (S.187)
Diesen Vorschlag von Atkinson erscheint mir sinnvoller als das bedingungslose Grundeinkommen, bei dem noch nicht erwiesen ist, wie es sich auf die Leistungsbereitschaft der Gesellschaftsmitglieder auswirkt.
Der Vorteil des vorliegenden Buches besteht darin, dass es sehr ausgewogen ist und dass es sich jeder Ideologie enthält. Es versucht, die Vor- und Nachteile einzelner Vorschläge sachlich zu diskutieren. Eins kommt dabei zum Vorschein, den meisten regierenden Politiker in den Industriestaaten ist unwichtig, die Spaltung in ihren Gesellschaften durch wachsende Ungleichheit anzugehen, sie konzentrieren sich auf andere Probleme wie Wirtschaftswachstum oder Vollbeschäftigung, ohne dabei strukturiert zu sein. Im Gegensatz dazu der Autor, der die einzelnen Bereiche gewissermaßen systematisch durcharbeitet.
Das fängt bei der Diskussion an, wie man ausgewogene oder angemessene Machtverhältnisse zwischen Interessengruppen in der Gesellschaft herstellt. Dazu reichen eben vier- oder fünfjährige Parlamentswahlen nicht aus, sondern manchmal ist auch ein Wirtschafts- und Sozialrat notwendig, der Gewerkschaften und NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) mit einbezieht. Das geht weiter über die Arbeitslosigkeit (oben schon erwähnt) und nationale Lohnpolitik (Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns) bis zur Kapitalerstausstattung für Volljährige. Nach diesem Vorschlag von Atkinson sollte jeder Volljährige ein „Mindesterbe“ vom Staat erhalten, das aus der allgemeinen Erbschaftssteuer finanziert wird und das nicht ganz bedingungslos sein sollte – es könnte zur Finanzierung eines Studiums oder zu einer Firmengründung eingesetzt werden. Selbstverständlich nimmt auch die Steuerpolitik eines Staates bei Atkinson einen größeren Raum ein. Sowohl was die Progressivität der Einkommensteuer und des Grenzsteuersatzes betrifft (er meint, indem er sich auf Berechnungen beruft, der Spitzensteuersatz sollte progressiv bis auf 65 Prozent angehoben werden), als auch was Erbschaft, Schenkung und Grundsteuer anbelangt. Bei der Grundsteuer zum Beispiel plädiert er für eine proportionale oder sogar progressive Steuer, die sich nach aktuellen Immobilienbewertungen richtet, und nicht wie in Großbritannien, wo die Grundsteuer regressiv ist.
Man muss nicht allen Vorschlägen von Atkinson zustimmen, zum Beispiel ist sein erster Vorschlag, dass sich politische Entscheidungsträger besonders der Richtung des technischen Wandels widmen und diejenigen Innovationen fördern sollten, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und der menschlichen Dimension der Dienstleistungserbringung Vorrang einräumen, in meinen Augen doch recht utopisch oder schwierig umzusetzen. Nicht bei jeder Innovation ist klar, welche Auswirkungen sie mal auf den Arbeitsmarkt und den Dienstleistungsbereich haben wird. Hier schafft die Politik schon viel, wenn sie überhaupt zukunftsträchtige Technologien (wie Künstliche Intelligenz oder E-Mobilität) fördert.
Aber solche Einwände richten sich nur gegen einzelne Passagen oder Vorschläge. Insgesamt sind die Gedanken Atkinsons überlegenswert. Gleichwohl ist „Ungleichheit“ keine ganz einfache Lektüre. Das Geschriebene ist zwar klar gegliedert, mit einem ersten Teil: Diagnose, einem zweiten Teil, der die Vorschläge zum Handeln – wie gesagt 15 Stück und noch 5 erwägenswerte Ideen – und einem dritten Teil, der die ökonomische Machbarkeit der Vorschläge erörtert, aber das Thema ist durch die sehr sachliche Behandlung nicht sehr spannend dargestellt. Zumal der Autor, da er Brite ist, ziemlich tief in die Analyse des britischen Sozialsystems einsteigt. Da muss ein Leser, wenn er kein Brite ist, sich erst hineinlesen.
Anregungen des Autors zum Nachdenken für den Leser kommen manchmal aus Nebenbemerkungen, gerade zur britischen Gesellschaft. Zum Beispiel ist sie seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts völlig umgebaut worden. Begünstigt wurden die Wohlhabenden und die Besitzenden. So wurde Wohneigentum vom Staat großzügig gefördert. Mieter blieben hingegen auf der Strecke, da wurde nicht mal an einen ausreichender Kündigungsschutz gedacht. Auch eine Labour-Regierung hat an der Ausrichtung der Gesellschaft seit den achtziger Jahren nichts oder nur wenig geändert. Mit anderen Worten Labour ist dem neoliberalen Mainstream gefolgt.
Zu der Entwicklung Großbritanniens und seiner gesellschaftlichen Spaltung wären mehr Worte notwendig als die Nebenbemerkungen des Autors. Aber das ist ja nicht sein Ziel. Er möchte eher mit überlegten Vorschlägen die Spaltung der Gesellschaft überwinden.
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