Natürlich ist sein Name für immer mit der Erscheinung des Sozialismus verbunden, auch wenn er sich den anders gedacht hat (als Vorstufe zum Kommunismus). Aber das ist ja mehr eine historische Angelegenheit. Hier soll es um das gehen, was von dem Ökonomen und Gesellschaftstheoretiker Marx auch in der Gegenwart noch gilt.
Die Buchautorin Ulrike Herrmann zählt in ihrem Buch „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ drei große ökonomische Gebiete auf, bei denen sich Marx geirrt hat: bei der These der Verelendung der Arbeiter, bei der Mehrwerttheorie und in der Geldtheorie (eingeschlossen das Kreditgebiet) [Westend Verlag, Frankfurt/Main 2016, 4. Auflage, S. 127 – 136].
Die drei ökonomischen Irrtümer von Marx
Bei der These der Verelendung der Arbeiter könnte man einwenden, dass Marx mit vielen Leuten seiner Zeit geirrt hat, wie z.B. Thomas R. Malthus und Ferdinand Lasalle, deren Theorien und Thesen unterschiedliche Ausprägungen hatten. Bei Marx findet sie u.a. ihren Ausdruck im absoluten und allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation: „Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee.“ [„Das Kapital“, MEW 23 S. 673, Dietz Verlag Berlin 1962] Marx betont deshalb in seinen Schriften stets die Unvereinbarkeit zwischen Kapital und Arbeit. Was man Marx in seinem „ersten“ Irrtum unbedingt zu Gute gehalten muss, dass er stets für die „schwächere“ Seite eingetreten ist, und dass es in der nachfolgenden Zeit Perioden gegeben hat, in denen die Kluft zwischen arm und reich in einer kapitalistischen Gesellschaft größer geworden ist, neben Perioden, in denen sie geringer wurde. So ganz von selbst scheint sich die Kluft nicht zu schließen, da bedarf es immer gesellschaftlicher Anstrengung. (Siehe dazu auch das Buch des britischen Wissenschaftlers Anthony B. Atkinson: Ungleichheit – was wir dagegen tun können. Stuttgart, Klett-Cotta 2018; 474 Seiten, 14,95 Euro, broschiert, das auf diesem Blog besprochen wurde.[Link] )
Der zweite Irrtum bei seiner Mehrwerttheorie trifft gewissermaßen Marx ins ökonomische Herz, denn er hat sehr lange damit verbracht, um sie auszuarbeiten. Dabei hat er sich nicht geirrt, dass sie auf die vorkapitalistische Zeit zutrifft, aber eben nicht auf die Zeit der Einführung von Maschinen (s. meinen letzten Blogbeitrag [Link] „Marx’ Mehrwertheorie – Zweifel daran“). Mit dieser Korrektur ist auch sein Gesetz von dem tendenziellen Fall der Profitrate obsolet, denn der Gewinn oder der Profit entsteht nicht nur aus der lebendigen Arbeit, sondern auch aus der maschinellen, also aus dem konstanten Kapitalanteil. Zwar konnte Marx mit seiner Mehrwerttheorie zunächst plausibel erklären, wie der Profit des Kapitalisten und wie Ausbeutung entsteht, aber insgesamt ist sie eben doch nicht richtig. Nebenbei bemerkt, Marx und Engels waren nicht immer fein, wenn sie gegen andere Auffassungen polemisierten. Davon kann man sich u.a. in den Bänden zur Mehrwerttheorie überzeugen. [MEW 26, 1,2,3]
Bei seinem dritten Irrtum, der Geldtheorie, bei der Marx darauf beharrte, dass Geld selbst einen Wert haben muss, und ignorierte, dass es aus dem Nichts geschafften werden kann, verpasste Marx es, eine Basis für seine Krisentheorie zu schaffen. Dazu hätte er die Rolle des Kredits viel genauer beleuchten müssen. Überproduktionskrisen, von denen er und Engels sprechen, hätten einfach mit Schöpfung von mehr Geld aus der Welt geräumt werden können…
Ist Marx ökonomisch etwas für die Geschichtsbücher?
Manche Leute meinen, Marx war nicht nur in der Praxis sondern auch in der Theorie schon immer Murx. Zum Beispiel der Blogger [Link] Harald Kellerwessel, der u.a. Betriebswirtschaft in Aachen und Köln studierte und dabei auch auf „Das Kapital“ stieß. Er hat in meinen Augen insoweit recht, dass „Das Kapital“ schwer zu lesen ist und dass Marx nicht nur mit seinen vielen Zahlenbeispielen ausschweifend ist. Trotz einiger wundervoll formulierter Sätze im „Kapital“, hätte vieles kürzer und prägnanter dargelegt werden können. Aber das kann nicht der alleinige Grad für die wissenschaftliche Beurteilung von Marx’ Gedanken sein. Für das Verständnis des Kapitals, was Profit, Ausbeutung und gesellschaftliche Ungleichheit betrifft, hat Marx doch einen Beitrag geleistet (s. auch meine obigen Darlegungen). Die anfangs erwähnte Autorin Ulrike Herrmann erinnert darüber hinaus: „Marx […] war daher der erste Ökonom, der klar beschrieb, dass der Kapitalismus zum Oligopol neigt: Die kleinen Firmen werden verdrängt, bis nur noch wenige Großkonzerne eine ganze Branche beherrschen.“ [Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. A.a.O. S. 125] Die heute herrschende Nachfrage-Angebots-Ökonomie äußert sich nicht zu diesem Problem.
Weitere Irrtümer von Marx auf nichtökonomischen Gebiet
Vielleicht hat Marx aber auch auf nichtökonomischem Gebiet Beiträge geleistet, die heute noch aktuell sind – er war ja auch Philosoph und Gesellschaftstheoretiker und hat, wie es in den sozialistischen Staaten allgemein hieß, den Sozialismus und Kommunismus wissenschaftlich begründet.
Freilich gilt es, auch auf nichtökonomischem Gebiet mit einigen Irrtümer von Marx aufzuräumen. Dabei soll es nicht direkt um den Sozialismus und Kommunismus gehen, sondern um Gedankenkonstruktionen, mit denen Marx die neuen Gesellschaftsformationen begründete. Ganz besonders gern wurde diesbezüglich aus „Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort“ [MEW Bd. 13 S. 8 f. Dietz Verlag Berlin 1961] zitiert:
„ In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
Zum ersten ist da der Gedanke, von Basis und Überbau einer Gesellschaft, zum anderen tauchen die Begriffe Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse auf. So einleuchtend sich dieser Absatz für die Apologeten des Sozialismus las, so stark vereinfacht ist dieses Gedankengebäude. Es stimmt schon, dass die Ökonomie ein wesentlicher Bestandteil einer Gesellschaft ist – und wenn man Probleme und die Entwicklung einer Gesellschaft untersucht – so muss man unbedingt auch auf die ökonomische Struktur zu sprechen kommen. Aber dass man aus der Wirtschaft alles andere oder vieles andere herleiten kann, das ist dann doch übertrieben. Man kann weder die gegenwärtigen Streiks in Frankreich gegen die Rentenreform der Regierung noch den Faschismus in Deutschland damit erklären. Da spielen psychologische und historische Gründe mit hinein.
Nach Marx’ Gedankengebäude hätte nie die Oktoberrevolution mit der anschließenden sozialistischen Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse bei den Produktionsmitteln stattfinden dürfen. Plötzlich gab es in einem Land sozialistische Produktionsverhältnisse mit rückständigen Produktionsmitteln. Denn Russland war zur Zeit der Umgestaltung bezüglich der Gesamtheit des Produktionsapparates viel rückständiger als Westeuropa. Vielmehr sollten die sozialistischen Produktionsverhältnisse helfen, schneller die Rückständigkeit zu überwinden. Was dann auch geschehen ist. (Siehe dazu auch ein Manuskript von mir: „Die notwendige Balance zwischen Staat und Wirtschaft“. Wen das interessiert, der kann in einem Kommentar sein Interesse äußern, ich wäre dann bereit, es im Print-on-Demand-Verfahren als Buch zur Verfügung zu stellen.)
Übrigens ist das ein weiteres Gebiet, bei dem sich Marx geirrt hat, die These vom „Absterben des Staates“ ist nicht haltbar (siehe dazu mein zuletzt angeführte Manuskript).
Was ist denn nun Bleibende von Marx auf gesellschaftstheoretischem Gebiet?
Das ist seine konkret-historisch Methode. Marx hat in fast allen seinen Schriften diese Methode angewandt. Eines seiner ersten Buchbeispiele dafür ist „Das kommunistische Manifest“. Natürlich wurde dieses Vorgehen durch sein sogenanntes „materialistisches“ Prinzip, das zuerst nach den ökonomischen Verhältnissen schaute, begünstigt. Aber dadurch geriet er nicht in Gefahr „ewige“ Prinzipien der Ökonomie oder der Politik aufzustellen.
Allerdings hat Marx’ Werk dann selbst dieses Methode eingeholt, indem wir heute vieles in ihm als historisch gebunden ansehen müssen.