Buchbesprechung: Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2022, eBook 274 Seiten, (für gebundenes Buch 24,00 Euro)
Hier ist der Publizistin Ulrike Herrmann ein großer Wurf gelungen. Selten (oder bisher nie) habe ich in einem Buch so viele gute und richtige Gedanken zum Umbau unserer menschlichen Gesellschaft hin zu einer ökologischen gelesen. Dabei mag die eine oder andere Erkenntnis nicht ganz neu sein – Herrmann ist Publizistin und keine Wissenschaftlerin! – aber wie gründlich sie die Fakten recherchiert und zusammenträgt und sie in einem sehr verständlichen Stil darbietet, das nötigt schon Respekt ab.
Freilich muss man die eine oder andere Erkenntnis mitunter ein wenig modifizieren, denn so ganz absolut gilt sie nicht, doch das tut der Sache keinen Abbruch. Es fängt bei dem Titel der Autorin an „Das Ende des Kapitalismus“. Nun hat, wie sie selbst anmerkt, schon manch einer das Ende des kapitalistischen Systems verkündet. (Man kann fast sagen, jedes Jahr erscheinen auf dem Büchermarkt Leser anlockende, großsprecherische Titel, die genau das voraussagen). Diesmal soll es aber anders oder genau so sein. Und Ulrike Herrmann nimmt sich etlichen Platz, um ihre Ansicht zu untermauern – Die ersten hundert Seiten, d.h. über ein Drittel des Buches handeln vom Kapitalismus, wie er entstand, und wie er selbstzerstörerisch wird. Dass sie dabei Anleihen an früheren Büchern von ihr nimmt (z.B. „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ Frankfurt/Main 2013), schadet nicht, denn sie vermag neue Akzente zu setzen und den Stoff konzentriert darzustellen.
Herrmann leitet ihre Behauptung vom Ende des Kapitalismus von der Feststellung ab, dass das kapitalistische System wachsen muss, sonst kommt es zu katastrophalen Zusammenbrüchen. Man sieht das bei Wirtschaftskrisen oder bei der Coronakrise. Immer stand in Industrieländern der Staat mit Milliarden Geldeinheiten bereit, um einzuspringen und die Wirtschaft auf einen Wachstumspfad zurückzuführen. – Wenn der Staat es nicht getan hat, wie Ende der 1920er Jahre in Deutschland, kommt es zu großem Unheil. – Speziell bei der Coronakrise:
„Plötzlich flogen keine Flugzeuge mehr, die globalen Lieferketten brachen zusammen, der Ausstoß an Treibhausgasen sank rapide, und Öl wurde zur Ramschware. Die Globalisierung war zwischenzeitlich genauso beendet wie der ungebremste Kapitalismus. Trotzdem zeigte die Coronakrise nicht, wie man den Kapitalismus verlassen kann – sondern bewies im Gegenteil, dass unser Wirtschaftssystem zum Wachstum verdammt ist.“ [S. 86/87]
Die Autorin dringt aber noch tiefer in die Materie:
„Aber wie genau entsteht dieser Wachstumszwang? Es mag ja einleuchten, dass eine schrumpfende Wirtschaft unschön ist, weil Unternehmen dann Konkurs anmelden müssen und Menschen ihre Arbeit verlieren. Aber warum kann der Kapitalismus nicht wenigstens stagnieren? Warum muss er permanent expandieren und immer neue Umweltschäden anrichten? Eine Antwort lautet: Wachstum kann nur entstehen, wenn Kredite aufgenommen werden – aber genau diese Darlehen lassen sich anschließend nur zurückzahlen, wenn es weiteres Wachstum gibt. Es ist kein Zufall, dass der Kapitalismus gleichzeitig eine Geldwirtschaft ist. Er wird durch Kredite angetrieben.“ [S. 87/88]
Nun lässt sich jedoch einwenden, dass es auch Wachstum im Kapitalismus ohne zusätzliche Rohstoffe oder Materialien gibt, allein durch die Segnungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Denken wir nur an die ersten Handys, die groß und schwer waren und wo der Kasten allein durch das Gewicht der Batterie auf dem Rücken getragen werden musste. – Auch darauf geht Herrmann ein, und verweist auf den Rebound-Effekt (auch Bumerang- oder Rückschlageffekt), den auch andere Verfasser schon beschrieben haben: Effizienzsteigerungen werden dadurch zunichte gemacht, dass mehr konsumiert oder andere Dinge mehr konsumiert werden. Bei den Handys: Fast jeder Mensch hat heute im Gegensatz vor 30 Jahren eins in der Tasche. Dadurch sank der Materialverbrauch bei Handys nicht, sondern stieg an.
Auch der wissenschaftlich-technische Fortschritt kann also den Wachstumszwang und die Umweltzerstörung des Kapitalismus nicht aufhalten!
Die Autorin hat in einem Punkt bezogen auf den Kapitalismus völlig Recht: In der Weise wie bisher kann er nicht weiterwirken. Er muss sich verändern. Ob das allerdings sein Ende sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Herrmann führt als Illustration für ihre Sicht das Beispiel des Ökonomen Mathias Binswanger an. Fischer auf einer Insel fahren mit kleinen Holzbooten aufs Meer hinaus und fangen Fisch. Den verkaufen sie auf dem Markt und können so ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien decken. Eines Tages fängt ein Fischer an (und die anderen machen es ihm nach), einen Kredit aufzunehmen und ein motorisiertes Boot anzuschaffen. Nun können sie viel mehr Fisch fangen. Der Preis der Fische sinkt zwar etwas, doch es bleibt, trotz Investitions- und Kreditkosten viel mehr als vorher für die Fischer übrig. – Darin drückt sich Kapitalismus mit seinem Kreditwesen aus. Soweit so gut.
Wenn nun aber ein Gesetz durch die Regierung erlassen würde, dass der Fang der Fischer mit Netzen verboten wird, sondern sie nur noch mit Angeln ausgerüstet fischen dürften, stiege der Preis der Fische sofort an. Die Fischer müssten sogar auch jetzt investieren, nämlich in Angelgerätschaft. Und darin ließe sich der neue Kapitalismus, den wir brauchen, ausdrücken. Ein Kapitalismus, der gezügelt wird, durch mengenmäßige Beschränkung („Rationierung“ sagt Herrmann). Da es eine Beschränkung in der Produktion gäbe, würden Reparatur und Wiederverwendung einen ganz neuen Stellenwert besitzen.
Diesen neuen Kapitalismus sieht Herrmann nicht oder bezeichnet ihn anders, da sie für die Zukunft prognostiziert:
„Trotzdem wäre diese klimaneutrale Welt nicht statisch. Technische Innovationen wären weiterhin dringend erwünscht: Wenn es etwa gelingen würde, die Energieeffizienz zu steigern, dann wären mit derselben Zahl an Windrädern und Solarpaneelen mehr Güter möglich. Es käme wieder zu Wachstum, wenn auch auf niedrigerem Niveau. So paradox es ist: Zunächst muss die Wirtschaft schrumpfen, bevor sie wieder expandieren darf. Dieses eventuelle Wachstum hätte jedoch mit dem heutigen Kapitalismus nichts mehr gemein, denn die Hierarchien hätten sich umgekehrt. Künftig bestimmt die Natur, wie viel Wachstum möglich ist – und nicht das Wachstum, was von der Natur übrigbleibt.“ [S. 255]
Zum zweiten und dritten Teil des Buches
Mit einer Vorstellung, die selbst bei einigen „grünen“ Politikern herumgeistert, räumt Herrmann gründlich auf: „grünes Wachstum“ im herkömmlichen Sinn ist eine Illusion! Schon deshalb, weil alternative Energie immer knapp und teuer sein wird. Der ganze zweite Teil des Buches mit mehreren Kapiteln heißt: „»Grünes Wachstum« gibt es nicht“ – Damit ist auch mit grenzenlosem Konsum Schluss [s. dazu u.a. S. 247]:
„Es klingt sehr demokratisch, wenn Anton Hofreiter die »freie Gesellschaft« lobt, in der jeder so viel konsumieren darf, wie er gern möchte. Aber in Wahrheit heißt Hofreiter damit gut, dass die Wohlhabenden auf Kosten aller anderen die Welt ruinieren. Diese extreme Ungerechtigkeit fällt nur deswegen nicht auf, weil Hofreiter zugleich behauptet, dass »grünes Wachstum« möglich sei. Für ihn ist schrankenloser Konsum erlaubt, weil er angeblich nachhaltig sein kann.“
Zwar weniger Raum nimmt eine andere Erkenntnis ein, die aber nicht weniger bedeutsam ist: Die Rettung der Welt, d.h. die Überlebenswirtschaft und die Klimawende kann nur gelingen, wenn sie weltweite Fairness und Gerechtigkeit beinhaltet. [Siehe dazu, z.B. S. 245/246]:
„Damit sind die Treibhausgase gemeint, die jedes Land noch emittieren darf. Dieser Ansatz ist so richtig wie fair. Zunächst wird ausgerechnet, wie viele Treibhausgase die gesamte Menschheit noch ausstoßen kann, damit sich die Welt nur um 1,5 oder 1,75 Grad Celsius erwärmt. Diese CO2-Restmenge wird dann auf alle Erdbewohner umgelegt. Für Deutschland kommt dabei heraus, dass wir spätestens 2035 klimaneutral sein müssen. […] Das Ziel steht auch schon fest: Klimaneutral sind alle Länder, die nicht mehr als eine Tonne CO2 pro Bewohner und Jahr ausstoßen. Ganz auf null müssen die Emissionen nicht sinken, weil die Natur einen Teil des Kohlendioxids absorbieren kann.“
Diesen Grundsatz ignorieren vor allem Politiker aus dem bürgerlichem und rechtem Lager, wenn sie monieren: „Warum muss denn Deutschland bei der Klimawende vorangehen, wir verbrauchen doch viel weniger CO2 als manch anderes Industrieland!“ – Es kommt als Industrieland darauf an, die Klimaziele zu erfüllen und die anderen Industrieländer mit ins Boot zu holen.
Natürlich scheint es für Demokratien schwieriger die Energiewende zu vollziehen als für Diktaturen. Demokratien haben aber auch ihre Vorteile. Herrmann vertritt dazu folgenden Standpunkt:
„Es ist in Ordnung, dass Parteien nur Forderungen erheben, mit denen sie Stimmen gewinnen können. So funktioniert die Demokratie. Parteien führen nicht, sondern folgen ihren Wählern. Der Wandel kommt nie von oben, sondern immer von unten. [Hervorhebung Seb. Solt.] Ein breites Umdenken ist jedoch nicht in Sicht: Die allermeisten BürgerInnen wollen an der Illusion festhalten, dass »grünes Wachstum« machbar sei. Also bedienen die Parteien diesen Traum – von den Grünen bis zur CSU.“ [S. 259]
Vielleicht scheinen die letzten aufgeführten Erkenntnisse von Ulrike Herrmann in der Aufzählung plakativ, doch dieses Buch ist alles andere als plakativ. Es beruht auf einer ungeheuren Literaturdurchsicht und -auswertung. Die Autorin tastet sich förmlich an ihre zu erörternden Themen heran, und zeigt auch die Schwäche von Thesen auf, die manches von der Bundesregierung bezahlte Klimainstitut vertritt. Ebenso macht sie nicht Halt vor Thesen von Aktivisten.