Manch ein Ökonom hat zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09, als das ganze Ausmaß der Bankenspekulation sichtbar wurde, vielleicht gedacht, nun hat der Neoliberalismus ausgedient. Nun kann man die These, dass man die Märkte, auch die Finanzmärkte, sich nur selbst überlassen muss, dann werden sie zum Vorteil aller sich entfalten, ad acta legen. Diese These ist falsch und berücksichtigt nicht ein öfters vorkommendes Marktversagen.
Tatsächlich wurde seit dieser Zeit einiges korrigiert. Vor allem wurde die Regulierung der Banken verschärft. Unter anderem dürfen sie nun nicht mehr mit Spareinlagen der Kunden spekulieren, oder sie müssen sogenannte Testamente erstellen zur Sanierung oder Abwicklung notleidender Institute (auch Tochtergesellschaften). Vorher war die Regulierung sträflich vernachlässigt wurden. Schon, dass der Staat 2008/09 auf der Höhe der Krise in die Wirtschaft eingriff und mit Krediten die Wirtschaft und große Banken stützte, kratzte am neoliberalen Dogma, nach der sich der Staat ja möglichst aus wirtschaftlichen Dingen heraushalten sollte, und entsprach eigentlich mehr der Lehre von Keynes.
Aber die Hoffnung, dass der Neoliberalismus mit der Krise 2008 am Ende war, erfüllte sich nicht. Irgendwie schien diese Spielart des Kapitalismus zählebiger als gedacht. Das fing schon damit an, dass die Regulierung der Banken, die eigentlich international erfolgen müsste, weil die großen Geldinstitute über Ländergrenzen tätig sind, nur national gelang. Einer der bekanntesten gegenwärtigen Wirtschaftsforscher, der US-Amerikaner Nouriel Roubini, der als einer der ersten die damalige Finanzkrise vorhergesehen hat, hat das einmal in einem Interview thematisiert. Er wurde gefragt, wie er die damalig geplante Finanzmarktreform (unter Präsident Obama) beurteile. „Es ist ein sinnvolles Gesamtpaket. Allerdings müssen sich die Länder weltweit auf einheitliche Regeln einigen. Nur dann lassen sich solche Exzesse, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, künftig vermeiden…“, antwortete er und fügte in der nächsten Antwort hinzu: „…ich sehe mit großer Sorge, dass die Reformbereitschaft schon wieder abnimmt. Die Wirtschaft hat sich zumindest etwas gefangen, und daher verlieren die Menschen das Gefühl, dringend etwas ändern zu müssen. Das ist ein großer Fehler.“ [https://www.welt.de/finanzen/article4518706/Warum-Finanzmaerkte-nur-mit-Gier-funktionieren.html]
Regulierung, weltweit und mit einheitlichen Regeln – das sind die Stichworte, die Roubini gab. Aber gerade daran krankt es bei der Regulierung. Jedes Land hat Angst, es könnte seinen Banken und sich selbst schaden, wenn es zu sehr reguliert, deshalb bremsen einzelne Länder lieber, besonders Länder mit Finanzzentren, wie Großbritannien (London) oder die USA (New York). Natürlich wollen die Länder nicht nochmals Milliarden aufwenden, um einzelne stürzende Banken im Fall einer Krise aufzufangen, aber regulieren wollen sie auch nur in einem bestimmten Maße, weil Regulierung Geld kostet und die Ertragslage der Banken schmälert. Die Interessenlage einzelner Länder verhindert also ein internationales Gesamtpaket. Und diese Lücke zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit bei der Regulierung begünstigt den Neoliberalismus.
Aber das ist nicht der einzige Punkt, der für den Neoliberalismus spricht. Ein anderer ist das Verhindern der ausufernden Nutzung von Finanzinnovationen. Entweder müssten Finanzinnovationen wie zum Beispiel die Verbriefung von Krediten (mehrere Kredite einer einzelnen Bank werden zusammengefasst, bekommen eine Bonitätsnote und können weiterverkauft werden) * reguliert oder ganz verboten werden. Doch die Gemengelage ist bei den Finanzinnovationen dieselbe wie bei der Bankenregulierung: Einige Länder, die davon profitieren, treten als Bremser auf. Die Finanzinnovationen zu stutzen ist bisher noch weniger gelungen als die Bankenregulierung. Ja, nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer, um Sekundenhandel an der Börse zu erschweren, der eindeutig andere Anleger an der Börse benachteiligt, ist international auf den Weg gebracht. Sie würde außerdem die Wechselkursspekulation, die mit Billionen von US-Dollars, Euros und anderen Währungen betrieben wird, beschränken.
Aber selbst eine Finanztransaktionssteuer und eine Bankenregulierung, sogar international durchgesetzt, würde dem Neoliberalismus noch nicht den Garaus machen. Der Neoliberalismus ist von seiner ökonomischen Seite her ein Finanzmarktkapitalismus, der aus vier wesentlichen Elementen besteht: liberalisierter Kapitalverkehr, deregulierte Finanzmärkte, extreme Kreditexpansion sowie ausufernde Nutzung von Finanzinnovationen. [Diese vier Elemente nennt Michael Hüther, Chef vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln]
Das erste Element, der liberalisierte Kapitalverkehr, ist dabei das wesentliche. Als die Theoretiker des Neoliberalismus (u.a. August von Hayek und Milton Friedman) „freie Märkte“ forderten und dabei auch den freien Kapitalverkehr einschlossen, lag das noch gar nicht so deutlich auf der Hand, was das bedeutete. Heute ist das viel deutlicher geworden. Der Wissenschaftler Christian Siefkes, der sich auch mit gesellschaftlichen Problemen beschäftigt, formuliert das so: “Während Menschen nur sehr eingeschränkt in andere Staaten migrieren können – in erster Linie nur dann, wenn sie ihre Nützlichkeit für dortige Unternehmen erfolgreich demonstrieren können – halten es Kapitalisten inzwischen für ein selbstverständliches und unverhandelbares Recht, ihr Kapital in dem Staat zu investieren, der ihnen die besten Bedingungen bietet. Weil die Staaten auf Investitionen angewiesen sind – diese sorgen für Steuereinnahmen und Arbeitsplätze –, sind sie gezwungen, sich einen Unterbietungswettbewerb um möglichst gute Kapitalverwertungsbedingungen zu liefern.“ [https://keimform.de/2017/zukunftsperspektive-neoliberaler-kapitalismus/]
Dieser Unterbietungswettbewerb bei Steuersätzen ist auch in Deutschland zu beobachten. In den reichlich letzten zwei Jahrzehnten wurden die Unternehmenssteuern ** gesenkt (s. Grafik).
Deutschland ist in der EU und in der Welt kein Ausnahmefall. In einer von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Veröffentlichung zu Unternehmenssteuern heißt es: „Seit mehr als zwei Jahrzehnten besteht international ein Trend zu sinkenden Unternehmenssteuersätzen. Durch niedrige Unternehmenssteuern sollen mobiler gewordene Unternehmen gehalten und angezogen werden bzw. soll sich die Attraktivität des eigenen Staates für Investitionen erhöhen und Steuerflucht vermieden werden. Entsprechend reduzierte sich beispielsweise der durchschnittliche Unternehmenssteuersatz der 28 EU-Mitgliedstaaten zwischen 1996 und 2018 von 38 auf 21,3 Prozent. Allerdings hat die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 den Abwärtstrend bei den Unternehmenssteuersätzen in den Folgejahren verlangsamt.“ [https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70564/unternehmenssteuern] [Hervorhebung von Seb. Solt.]
Bestrafung und Bevorteilung der Länder vom internationalen Kapital, das klingt nach Herrschaftssystem. Und tatsächlich ist der Neoliberalismus nicht nur eine Ideologie, sondern auch eine Herrschaftsform, die sich als weltweiter Finanzkapitalismus äußert. Und wie jede Herrschaft hat sie ihre Eigenheiten, auf die jetzt noch etwas eingegangen werden soll.
Seitdem der Finanzkapitalismus in seiner modernen Form existiert (etwa seit Beginn der 80er Jahre), hat das Finanzvermögen stark zugenommen, stärker als das weltweite Bruttoinlandsprodukt. In der Literatur gibt es verschiedene Angaben dazu, einig sich sich die Autoren, dass das Wachstum des Finanzvermögens schneller war als das des Welt-Bruttoinlandsprodukts. Zum Beispiel hier:
„1980 belief sich das Weltfinanzvermögen auf das 1,2-fache des Welt-Bruttoinlandsprodukts. Zehn Jahre später weisen die Statistiken bereits den Faktor 2 aus. Die Entwicklung ging auch nach der Jahrtausendwende ungebremst weiter, so dass im Jahre 2001 bereits dreimal so viel Finanzvermögen zirkulierte wie an realen Werten geschaffen wurde. Nach der Dot.com-Krise ging die Party erst richtig los. Von 2001 bis 2006 wuchs das Welt-Bruttoinlandsprodukt von 32 Billionen US-Dollar auf 48 Billionen US-Dollar um etwa ein Drittel des Ausgangswerts. Das Finanzvermögen explodierte förmlich von 92 auf 167 Billionen US-Dollar. Ein Anstieg um ca. 82 % in nur vier Jahren! Trotz der Finanzmarktkrisen 2007 ff. betrug im Jahre 2010 das Weltfinanzvermögen bereits fast das 4-fache des Weltsozialprodukts. Und die Entwicklung hält seitdem ungebremst an.“ [Werner Kindsmüller: Insolvenz der Moderne: Warum wir neue Wohlstandsmodelle brauchen. – Band 1, Verlag tredition GmbH Hamburg, 2015, 456 Seiten, 19,80 Euro, Taschenbuch; Zitat aus Pkt. 15. Die beherrschende Rolle des Finanzkapitals]
Jede Herrschaft schafft die Grundlagen ihrer Ablösung selbst, so ist es auch beim modernen Finanzkapitalismus. Die starke Vermehrung des Finanzvermögens, man kann auch sagen „Geldschwemme“, führt natürlich dazu, dass eines Tages reale Sachwerte und Finanzwerte wieder in Einklang kommen müssen, und das passiert über Finanzkrisen oder Finanzcrashs. Wie weit sich bis dahin das Finanzvermögen aufbläht, kann keiner sagen.
Dieser Blogbeitrag ist eine Fortsetzung des Blogbeitrages vom Jan. 2019 Die “ökonomischen Grundlagen” des Neoliberalismus.
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* Diese Praxis hat in den USA zur Hypothekenkrise geführt, die Auslöser der Finanzkrise 2008/2009 war.
** Unternehmenssteuern sind international nicht ganz einfach vergleichbar, weil unterschiedliche Arten dazu gehören. In Deutschland z.B. sind es die Körperschaftssteuer (vom Bund erhoben), der Solidaritätszuschlag (auch vom Bund erhoben) und die Gewerbesteuer (von den Kommunen erhoben); die Gewerbesteuer hängt in der Höhe von dem Hebesteuersatz der Kommunen ab.