Während sich Putin im Kreml einigelt und von dem „kommenden“ großrussischen Reich mit den Diktaturen Weißrussland, Kasachstan und Armenien träumt und auf die zukünftig in sein Herrschaftsbereich einzuverleibende Ukraine starrt, verspielt er immer mehr die wirtschaftliche Zukunft seines Landes.
Bevor wir das näher beschreiben, betrachten wir die Ausgangssituation. Die russische Föderation (Russland) ist das größte Land der Erde mit über 140 Mill. Einwohner. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das etwas über die Wirtschaftskraft aussagt, hat sich in den letzten dreißig Jahren folgendermaßen entwickelt (s. Grafik):
Wir sehen in der Grafik von 1990 bis 1998 ein abnehmendes reales Bruttoinlandsprodukt. Das waren die chaotischen Jahre unter Jelzin, die mit einer missglückten Transformation von einer sozialistischen zu einer kapitalistischen Wirtschaft begannen und mit der Zahlungsunfähigkeit des russischen Staates 1998 endeten (Russlandkrise). Löhne und Renten konnten am Ende dieser Periode teilweise nicht ausgezahlt werden, Inflation führten zu starker Alltagsarmut. Begleitet wurde dieser Zeitabschnitt von steigender Kriminalität, Alkoholismus und niedriger Geburtenrate. In dem Gedächtnis der Leute haben sich diese Jahre als Etappe des Schreckens, des Chaos und des Niedergangs eingeprägt.
Im Sommer 1999 wurde Putin Ministerpräsident. Und mit ihm begannen fast zehn Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs. Das Besondere an dieser Phase war, dass nicht nur wenige Leute reich wurden (Oligarchen), sondern auch der Lebensstandard der Bürger durchschnittlich wuchs. Nach dem wirtschaftlichen Einschnitt von 2009 ging es mit dem Anstieg nur langsam weiter. 2016 war sogar ein kleiner Rückgang zu verzeichnen. Dieser Abbau hing nicht nur mit den wirtschaftlichen Sanktionen des „Westens“ auf die russische Annexion der Krim zusammen, sondern mit dem Sinken des Erdölpreises. Und damit kommen wir zur ersten Besonderheit der russischen Wirtschaft: ihrer Abhängigkeit vom Erdölpreis.
Erste Besonderheit der russischen Wirtschaft: Erdöl
Fast 80 % der russischen Exporte bestehen aus Energie- und Rohstoffe oder Rohstoffwaren, davon entfallen die Hälfte allein auf Erdöl und Erdgas. Sinkt der Erdöl- oder Erdgaspreis stärker, macht sich das sofort im Staatshaushalt bemerkbar, wichtige Deviseneinnahmen fehlen dann, denn sie tragen 40 bis 60 % zum Staatshaushalt bei. Und genau das geschah in den Jahren 2014/2015, der Erdölpreis brach um die Hälfte ein. Hingegen war der Erdölpreis in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, dem wirtschaftlichen Aufschwung in Russland, fast kontinuierlich gestiegen.
Man kann nicht sagen, dass Russland nur Energie- und andere Rohstoffe exportiert, zum Beispiel tritt es auch als Getreideexporteur Nr. 1 in der Welt auf, oder als Exporteur von Land- und Erntemaschinen, von Fabrik- und Laboranlagen, von Kernreaktortechnik und, ganz stark, von Triebwerken verschiedener Art (Turbojets, Turbinen für Windräder). Doch alles in allem dominieren Roh- und Energiestoffe.
Zweite Besonderheit Russlands: der durchschnittliche Lebensstandard ist der eines Entwicklungslandes
Schaut man bei Wikipedia in die „Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf“, so sieht man sofort den niedrigen Lebensstandard in Russland. Wenn man den Wechselkurs Rubel zu US-Dollar zugrunde legt, dann rangiert Russland 2019 auf den 65. Platz der 193 Staaten mit 11.600 US-Dollar BIP pro Kopf. Das in der Welt durchschnittliche BIP pro Kopf beträgt fast dieselbe Größe: 11.400 US-Dollar. Also, Russland gehört nicht zu den armen Entwicklungsländern, eher rangiert es im oberen Bereich dieser Kategorie.
Freilich kann durch die Verwendung des Wechselkurses der jeweiligen Landeswährung zum US-Dollar die Angabe leicht verzerrt sein, denn auch wenn sich der Wechselkurs verändert, verändert sich nicht sofort der Lebensstandard in einem Land. Deshalb gibt es noch eine zweite Tabelle, dort wird das BIP pro Kopf kaufkraftbereinigt in internationalen Dollar aufgeführt. Russland verbessert sich dadurch auf Platz 58 mit einem BIP pro Kopf von ca. 28.200 Dollar, aber es belegt weiter nur einen der mittleren Plätze, gefolgt zum Beispiel von Kasachstan. (Zum Vergleich: Deutschland hat in dieser Tabelle ein BIP pro Kopf von 56.200 internationalen Dollar.)
Dritte Besonderheit Russlands: hohe Korruption
An und für sich ist in einem Entwicklungsland das keine Besonderheit: Korruption. In Russland hat sie aber nach Ende der sozialistischen Ära zugenommen:
„Demnach stellt die Korruption ein weit verbreitetes Problem dar. Als besonders korrupt werden im Allgemeinen die Beschäftigten im öffentlichen Sektor (92%) empfunden und hier im Speziellen die Polizei (89%), die Justiz (84%) und das Parlament (83%), aber auch das Gesundheitswesen (75%) und das Bildungssystem (72%). Zudem geben 79% der Befragten an, dass Korruption ein ernsthaftes Problem in ihrem Land ist. Weiterhin ist die Hälfte der Befragten der Meinung, dass sich die Korruption in den vergangenen zwei Jahren (vor 2013, dem Jahr der Befragung) verschlechtert hat.“ [https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2016/heft/5/beitrag/strukturelle-schwaeche-der-russischen-wirtschaft.html]
Als Medvedev 2008 Präsident war, versuchte er das Problem mit einem Nationalen Antikorruptionsplan in den Griff zu bekommen, in dem Strafen für Bestechungsdelikte verhängt und interne Kontrollen verstärkt wurden, aber seit 2014 ist wieder eine Verschlechterung zu beobachten. – Kein Wunder, denn wenn sich der Präsident und die obersten Führungskräfte unrechtmäßig Vermögen aneignen, dann setzt sich diese Korruption bis in die unterste Ebene der Bevölkerung fort. In der Liste des Korruptionswahrnehmungsindexes von Transparency International belegt Russland 2020 den Platz 129 von 179 Staaten. Deshalb kommt die oben zitierte Studie zu der Einschätzung: „Russland bleibt nach wie vor eines der korruptesten Länder weltweit.“
Vierte Besonderheit der russischen Wirtschaft: ineffektive Wettbewerbspolitik
In einem modernen Wirtschaftsstaat sorgen die Staatsorgane nicht nur dafür, dass sich kleine, neu gründende Firmen entwickeln können, indem sie ihnen Steuererleichterungen und eventuell günstige Darlehensbedingen gewähren, sondern auch, indem sie eine wirksame Anti-Monopolpolitik betreiben, um zu verhindern, dass große Firmen die kleineren be- oder verdrängen. Beides ist in Russland nur ungenügend der Fall. Entsprechend haben sich kleine und mittlere Firmen in Russland nur ungenügend entwickelt, die russische Wirtschaft wird von großen oder staatlichen Unternehmen dominiert:
„Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) machen nur etwa ein Fünftel der Beschäftigung und der gesamtwirtschaftlichen Leistung gemessen am BIP aus. Zum Vergleich: In der EU stehen KMU für 66% der Beschäftigung und 57% der gesamtwirtschaftlichen Leistung.“ [Anmerkung: Seb. Solt.: Zu einem KMU-Betrieb zählt, wenn es nicht mehr als 249 Beschäftigte gibt, einen Jahresumsatz von höchstens 50 Millionen € erwirtschaftet wird oder die Bilanzsumme maximal 43 Millionen € beträgt.]
Das hat auch Auswirkungen auf die Produktivität:
„Der hohe Anteil des Staatssektors geht auch mit einer geringeren Produktivität einher. Laut Schätzungen liegt die Arbeitsproduktivität in den Unternehmen in Staatsbesitz in einigen Branchen bei etwa 30% des Branchendurchschnittswert. In vielen Bereichen verfügt der Staat über Monopolrechte. Zudem sind die Entscheidungen auf den Führungsetagen oft politisch motiviert und die Unternehmensführung ist politischen Zielen untergeordnet.“ [Link: siehe oben]
Fünfte und letzte Besonderheit der Wirtschaft: Eigentlich gut ausgebildetes, aber schlecht genutztes Humankapital
„Der Anteil der Bevölkerung mit Hochschulabschluss in Russland ist im internationalen Vergleich sehr hoch. In der Altersgruppe 25 bis 34 Jahre belegt das Land laut Daten der OECD Platz vier unter den OECD/G-20-Ländern. 55% der Bevölkerung in dieser Altersgruppe verfügen über einen Hochschulabschluss.“ [Link: siehe oben]
Freilich sind Einschränkungen bei der Qualität der Ausbildung zu machen. Wie die erwähnte Studie hinweist, schneiden 15-jährige russische Schüler bei PISA-Vergleichen in den Bereichen Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften signifikant unter dem OECD-Durchschnitt ab.
Ein Nachteil des russischen Bildungssystems sind veraltete Bildungsinhalte, große regionale Unterschiede bei der Finanzierung, ein niedriger Standard des Unterrichts und geringe Gehälter des Lehrpersonals, was die Attraktivität des Berufes beeinträchtigt.
Nach dem Studium ist etwa ein Drittel der Hochschulabsolventen in Bereichen beschäftigt, die von dem studierten Fach abweichen.
Fazit
In allen fünf aufgezählten wirtschaftlichen Bereichen, die zugleich Schwächen der russischen Wirtschaft darstellen, hätte Putin genügend Betätigungsfelder, um sein Land wirtschaftlich voran zu bringen. Aber keines der Probleme wird durch den Ukrainekrieg angegangen, im Gegenteil, sie werden sich noch verschärfen. Was er also mit seinen Großmachtambitionen tut, ist, die wirtschaftliche Zukunft seines Landes zu verspielen und gleichzeitig in Europa eine Rüstungsspirale in Gang zu setzen.
1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort
[…] in der Ukraine fast deckungsgleich mit der Russlands, [siehe letzten Blogbeitrag vom März 2022 [https://oekonomie-kompakt.de/russland-keine-wirtschaftliche-zukunftsorientierung/]. Erst nach diesem Zeitpunkt unterscheiden sich die Grafiken. In Russland erhöht sich das BIP nach […]