Ein Beispiel wie ehemalige Größe gegenwärtiges nationales Denken beeinflusst, ist Großbritannien. – Genau genommen, gehören zu Großbritannien nur England, Schottland und Wales. Nordirland gehört zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland. Doch diese Feinheit lassen wir mal weg und bezeichnen alles einfach als Großbritannien.
Großbritannien stand einst, d.h. vor 200 Jahren, dem Britischen Weltreich vor. Das war das größte Kolonialreich der Geschichte. Damals war Großbritannien eine Weltmacht und war der erste Industriestaat der Erde. Diese Vormachtstellung verlor es aber am Ende des 19. Jahrhunderts und wurde von den USA in der Industrialisierung überholt. (Siehe dazu folgende Grafik:)
Anmerkung zur Grafik: „internationale“ Dollar wird benutzt, um Länder wirtschaftlich in der Kaufkraft miteinander vergleichen zu können, unabhängig vom Devisenkurs, der durch Handel und Kapitalexport beeinflusst wird.
Aus der obigen Grafik sieht man, dass Großbritannien nicht nur von den USA wirtschaftlich überholt wurde, sondern auch von Deutschland in den 1960er Jahren. Ein allmählicher Niedergang eines ehemaligen Imperiums scheint sich anzudeuten, zumal Großbritannien vom pro-Kopf-BIP auf das Niveau von Italien zurückfällt. Eine weitere Grafik zeigt, wie es seit den 1990er bzw. den 1980er Jahren mit Großbritannien bezüglich der angeführten Kenngröße weitergegangen ist.
Anmerkung: (s. vorherige Grafik)
Nach dieser Quelle lag Großbritannien im BIP pro Kopf 1980 noch hinter Italien und konnte Italien 2005 überholen. Die unterschiedlichen Aussagen der beiden Grafiken beruhen auf unterschiedlichen Quellen der Statistik und es ist sehr schwierig, die Kaufkraftparität der unterschiedlichen Länder genau zu ermitteln. (Dazu werden Warenkörbe herangezogen.)
Zumindest aus der zweiten Grafik lässt sich erkennen, dass der Niedergang Großbritanniens doch nicht so signifikant ausfiel, wie man aus der ersten Grafik befürchten musste. Man kann sagen, dass Großbritannien im BIP pro Kopf in den letzten 50 Jahren vergleichbar mit Frankreich lag. Dass der Niedergang aufgehalten werden konnte, liegt vermutlich auch daran – ohne es natürlich beweisen zu können –, dass das Vereinigte Königreich seit 1973 der EU (damals noch Europäische Gemeinschaft) angehörte und von den Handels- und Standortvorteilen profitierte.
Gerade aber an diesem Punkt lässt sich der ganze Zwiespalt zwischen alter Größe und Unabhängigkeit und dem Unterordnen unter einer Institution (der EU) festmachen. Zunächst hatte man auf der Insel das Gefühl (oder nährte es), dass man in die Kassen der EU zu viel einzahlt. Als gut entwickelte Industrienation gehörte Großbritannien zu den Netto-Geldgebern der EU. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher (Regierungszeit 1979 – 1990) setzte deshalb einen Rabatt, sprich Minderung, auf die britischen Einzahlungen durch. Doch immer wieder stieß man sich daran, dass man sich in bestimmten gesetzlichen Fragen der EU unterzuordnen hatte. Das verletzte den Stolz der ehemaligen Welt- und Kolonial-Großmacht. Und wenn es bei der Entwicklung der stolzen Nation knirschen würde, würde dieses Thema wieder aufs Tapet kommen, das lag in der Luft. In dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war es dann soweit, man ließ ein Referendum unter dem britischen Volk zum Austritt des Landes aus der EU durchführen. Das Votum für den Brexit war zwar knapp, aber doch ausreichend, so dass nach längeren Verhandlungen mit der EU Großbritannien Ende Januar 2020 die Europäische Union verließ.
In dem zweiten Jahrzehnt sah es mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Großbritannien nicht besonders gut aus. Das kommt auch in der zweiten obigen Grafik teilweise, aber nur teilweise, zum Ausdruck. Nimmt man das nominelle BIP pro Kopf so hat es sich in jenem Jahrzehnt kaum verändert. Das hängt mit der Welt-Finanzkrise von 2008/2009 zusammen, die Großbritannien als Finanzzentrum schwer traf:
„Drei Jahre, nachdem im September 2007 die Bilder von verängstigten Kunden der wenig später verstaatlichten Hypothekenbank Northern Rock um die Welt gingen, die auf der Straße Schlange standen, um ihre Ersparnisse abzuheben und damit optisch den Beginn der Finanzkrise in Großbritannien symbolisierten, sind die Bürger und Bürgerinnen im Vereinigten Königreich dabei, die Rechnung für die Exzesse ihrer Banken zu begleichen. Unter der im Mai 2010 abgewählten Labour-Regierung waren die Institute auf der Insel mit Steuergeldern in Höhe von umgerechnet knapp einer Billion Euro vor dem Untergang gerettet worden. In kaum einem anderen großen Industrieland war die Staatsverschuldung während der Finanzkrise so drastisch gestiegen wie in Großbritannien. Binnen vier Jahren schoss sie von 47 auf 82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das Haushaltsdefizit kletterte auf elf Prozent des BIP. (Hervorhebung Seb. Solter)“ <https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32335/grossbritannien-und-die-folgen-der-finanzkrise/>
Was auf die Bankenkrise und die dadurch erhöhte Staatsverschuldung folgte, war das größte staatliche Sparprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich waren davon auch Gesundheits- und soziale Ausgaben betroffen. In einer solchen Situation wachsen in der Bevölkerung soziale Abstiegsängste und Bedrohungsgefühle. Zwei Hauptargumente der Brexit-Befürworter lauteten dann auch, Großbritannien habe nicht mehr die Kontrolle über die Migration in das Königreich, das Land sei überfremdet, und es würde zu viel Geld in die EU-Kassen überweisen müssen. Das könnte man zum Beispiel für den nationalen Gesundheitsdienst viel besser verwenden. Dass man auch Geld von der EU empfing, wurde dabei von den Brexitiers kaum hervorgehoben. Ebenso wenig, dass Großbritannien von der Migration, aufgrund billiger Arbeitskräfte, auch profitierte.
In einer angespannten Lage wird gern, selbst in kleineren Einheiten als der ganzen Bevölkerung eines Landes, nach Schuldigen für die Misere gesucht, gewissermaßen nach Sündenböcken, und wenn Gefühle und nicht mehr Vernunft überhandnehmen, wird sogar häufig das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. So auch im Falle des EU-Austrittes von Großbritannien.
Das britische Gesundheitswesen hat sich bis heute nicht verbessert, und neulich wurde bekannt, dass wegen Fachkräftemangel die Visavergabe für ausländische Bauarbeiter in Großbritannien ausgeweitet bzw. erleichtert wird.
Wie wird es weitergehen?
Großbritannien ging öfters eigene Wege bei der Bewältigung von Problemen und nicht immer waren diese erfolgreich. Mitte der 1920er Jahre waren mehr als eineinviertel Millionen Arbeitnehmer arbeitslos, von insgesamt 12 Millionen Versicherten. Drei Viertel davon arbeiteten in den angestammten, alten Grundindustrien, insbesondere in der Baumwoll- und Wollindustrie. Welche Möglichkeiten sahen die damals Verantwortlichen, um die Arbeitslosigkeit zu senken? Lohnkürzungen und dadurch Kostensenken, statt Investitionen, um die Produktivität zu steigern! Premierminister Stanley Baldwin, der aus einer Eisen-und-Stahl-Familie stammte, erklärte damals: »Alle Arbeiter in diesem Land müssen Lohnkürzungen hinnehmen, um der Industrie wieder auf die Beine zu helfen.« [zitiert aus Harold James: Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung von 1850 bis heute. Verlag Herder GmbH, Freiburg in Breisgau 2022. S. 186]
In den 1980er Jahren steuerte die „eiserne Lady“, Margaret Thatcher, die Geschicke des Landes. Auf der einen Seite vermochte sie zwar die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation ihres Staates aufzubrechen, aber auf der anderen Seite bildete sie Denkmuster aus, die noch längere Zeit nach ihr wirkten. Zum Beispiel, dass der Staat sich nicht in die Belange der Wirtschaft einmischen, sondern die Märkte unbehelligt lassen sollte. Also Deregulierung, genau das, was die Bankenexzesse begünstigte und in die Banken- und Finanzkrise 2008/2009 mündete. Auf derselben Linie lag die Vorstellung, dass der Staat nicht aktiv Spitzentechnologien fördern brauche, sie vielmehr von der Industrie allein kämen. Die USA haben schon viel eher vorgemacht, dass es umgekehrt laufen muss, der Staat als Mitinitiator und Förderer von Spitzentechnologie.
Inzwischen ist seit dem Austritt Großbritanniens aus der EU viel Wasser die Themse heruntergeflossen. Die Covid-19-Pandemie verlangte von der Bevölkerung größere Opfer, die britische Gelassenheit wurde angesichts leerer Regale nach dem EU-Austritt auf eine schwere Probe gestellt, der britische Brexitier und Hardliner Boris Johnson verlor seinen Job als Premierminister, und neuerdings beutelt auch die Inflation die britische Nation. Für den ärmsten Teil der Bevölkerung hieß es im letzten Winter: „eat or heat“ (essen oder heizen).
Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, indem die Vernunft wieder die Oberhand gewinnt. Am 27.2. 2023 wurde gemeldet, dass der jahrelange Streit zwischen Großbritannien und der EU um den Warenverkehr nach Nordirland ein Ende hat, und eine Einigung erzielt wurde, das Windsor-Abkommen. Ist es das erste Zeichen eines neuen britischen Ansatzes?