Zu der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“, die Mitte der 1970er Jahre gegründet wurde, gehören eine Reihe prominenter Ökonomen. Von den 18 bekannten Mitgliedern und Mitarbeitern, die wikipedia auflistet, sind allein 16 noch einmal einzeln bei wikipedia aufgeführt, darunter Ökonomen wie Rudolf Hickel, Heinz-Josef Bontrup und Jörg Huffschmid (inzwischen verstorben). Die Gruppe veröffentlicht jedes Jahr ein Memorandum, in dem sie eine Alternative zur offiziellen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung aufzeichnen möchte. Es sollen nicht die Gewinne der Privatwirtschaft im Vordergrund stehen, sondern Beschäftigung, Einkommen, Sozialleistungen und Umweltschutz. „Die einseitig kapitalorientierte Position der Unternehmensverbände und der Bundesregierung treten in Deutschland auch deshalb mit besonderer Autorität auf, weil sie von der überwiegenden Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern unterstützt werden.“ heißt es auf der Website der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
Dieser Blogbeitrag will die Standpunkte dieser Arbeitsgruppe untersuchen und dabei genauer beurteilen: Was ist Wunsch, was fundierter Ansatz? Dabei wird sich auf das zwanzigseitige diesjährige MEMORANDUM in Kurzfassung [auf der Website herunterladbar] gestützt, das im März 2020 erschien. Neben diesem Papier publizieren noch einzelne Mitglieder Artikel. Doch darauf wird nicht eingegangen, denn das Memorandum bietet schon Stoff genug.
Wie sieht die Arbeitsgruppe die Energiewende?
Gleich zum Eingang des MEMORANDUMS wird hervorgehoben, was in der Politik der Bundesregierung in den letzten zehn Jahren nicht geklappt hat: zum Beispiel die ökologische Wende in der Verkehrspolitik. Und das ist wahr, und lässt sich zum Beispiel an der Grafik der CO2-Emissionen beim Verkehr belegen.
Doch gerade hier sind die Autoren der Arbeitsgruppe zu einseitig, denn es hat zwar in der Verkehrspolitik die Wende nicht gegeben (dazu bremsten die CSU-Politiker, die dieser Ressort in den letzten Jahren inne hatten, wahrscheinlich viel zu sehr), doch in der Gesamt-Energiewirtschaft ist schon eine Besserung zu verzeichnen (s. nächste Grafik), die aber die alternativen Wirtschaftspolitiker ausklammern:
Es ist zwar nicht berauschend, was die Bundesregierung bezüglich Energiewende anzubieten hat, aber die Grafik sieht doch anders aus, als diejenige, die sich die alternative Wirtschaftspolitik herausgepickt hat.
Die Alternativen und die Schuldenbremse
Trotz dieses Fauxpas sollte man nicht alle Vorschläge der Arbeitsgruppe in Bausch und Bogen abtun. – Es gibt dabei allerdings ein Problem. Die Gruppe möchte sich natürlich als die besseren Ökonomen zeigen als diejenigen, die die Bundesregierung beraten (das ist besonders der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung) oder denen, die die Bundesregierung bei ihren ökonomischen Leitlinien folgt. Und dazu brauchen die alternativen Ökonomen vor allem eins: Geld. Nur so ist zu erklären, warum die Alternativen sehr stark gegen die schwarze Null im Bundeshaushalt oder gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz wettern. In ihrem MEMORANDUM stellen die Alternativen fest: „Für die Begrenzung der Kreditaufnahme des Staates gibt es mehrere Regelungswerke, die alle rechtlich verbindlich sind. Auf der Ebene des deutschen Nationalstaates gibt es die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse. Daneben existiert der Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), der in den Europäischen Verträgen festgeschrieben ist. Zusätzlich gibt es noch den europäischen Fiskalvertrag, ein völkerrechtlicher Vertrag der EU-Mitgliedsländer. Alle drei Systeme weisen unterschiedliche, zum Teil sehr komplexe Regelungen auf. Aufgrund der Vielschichtigkeit lässt sich nicht einmal eindeutig sagen, welche Regelung restriktiver wirkt.“ [MEMORANDUM 2020 S. 10] Um dann die Behauptung anzufügen: „Eine ökonomisch schlüssige Begründung gibt es für alle drei nicht.“
Ein paar Sätze später gipfelt alles in der Forderung: „Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert die Abschaffung der Schuldenbremse.“ – Wenn sich die Personen, die in der genannten Arbeitsgruppe mitarbeiten, als Ökonomen verstehen, dann sollten sie mal nachlesen, was das Gabler Wirtschaftslexikon zur Schuldenbremse sagt: »Höhe und Entwicklung des in den Haushalten von Bund und Ländern aufgelaufenen Schuldenstandes zeigen, dass die bislang geltenden Regeln über die Schuldenaufnahme die Neuverschuldung nicht nachhaltig eingedämmt haben und den Anstieg der Schuldenstandsquote (Schuldenstand im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt) nicht haben verhindern können. Die Schuldenstandsquote der öffentlichen Haushalte ist seit der Finanzverfassungsreform von 1967/69 von damals rund 20 Prozent auf heute [d.h. etwa 2011 Seb. Solt.] knapp 70 Prozent gestiegen. Ursächlich war u.a. der ungeeignete Investitionsbegriff, die zu weit gefassten Ausnahmeregelungen über die drohende „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ und die ungenügende Abstimmung zwischen Haushaltsaufstellung und Haushaltsvollzug.« [wirtschaftslexikon/gabler.de] – Wenn es keine Schuldenbremse gäbe, dann würden die Politiker die Staatsschulden froh und fröhlich weiter in die Höhe getrieben haben (und dazu hätten sogar die alternativen Ökonomen geraten!).
Die alternativen Ökonomen behaupten, dass die Schuldenbremse prozyklisch wirkt: „Eine Konzeption des permanent ausgeglichenen Haushalts wäre prozyklisch in einer Rezession und ebenfalls prozyklisch im Aufschwung und in der Hochkonjunktur, würde also konjunkturelle Ausschläge vergrößern.“ [MEMORANDUM, Kurzfassung. S. 10] Die Politiker der Bundesregierung haben sich genau entgegengesetzt, also antizyklisch, verhalten. Sie haben in der Finanzkrise 2008/09 Geld in die Hand genommen, um der Rezession entgegenzuwirken, und tun das jetzt, in der Corona-Krise, wieder. Das einzige, das man ihnen vorwerfen kann (und genau das tun die Alternativen), dass sie zwischendurch gespart haben. Aber wann hätten sie sonst sparen sollen…? (Das wissen allein die neunmalklugen alternativen Wirtschaftspolitiker.)
Der Investitionsstau in Deutschland
Freilich, was man immer jemand vorhalten kann, ist, dass er Geld falsch ausgibt. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist, dass ein Investitionsstau in Deutschland entstanden ist. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, auf die sich die Alternativen beziehen, sind in Deutschland in den nächsten zehn Jahren 457 Milliarden Euro notwendig, um diesen Investitionsstau aufzulösen, das hieße etwa 46 Mrd Euro pro Jahr. Dieses Geld müsste in die Bereiche kommunale Infrastruktur, Bildung, Wohnungsbau, Breitband und Verkehr sowie die Dekarbonisierung der Wirtschaft fließen. [MEMORANDUM S. 9] – Worin die alternative Wirtschaftspolitiker unbedingt Recht haben, es geht nicht nur um Geld oder ein Umlenken von Geldströmen, sondern auch um Personal. „Erhebliche Investitionsmittel der öffentlichen Hand können überhaupt nicht abgerufen werden, da entsprechende Planungskapazitäten in den Ämtern fehlen, weil die Kapazitäten der Bauindustrie voll ausgelastet sind oder weil beispielsweise IT-Fachkräfte fehlen.“ [Ebendort] Und das Personalproblem kann nicht kurzfristig, sondern ist langfristig zu betrachten und zu lösen.
Nun muss sich die Bundesregierung entscheiden, will sie Wahlgeschenke verteilen an das Klientel der Parteien, die in der Regierung mitregieren, oder will sie notwendige Investitionen in Angriff nehmen. Die Kunst in der Haushaltsführung besteht ja darin, zu sparen und gleichzeitig dringende Aufgaben nicht zu vernachlässigen, was heißt, die Gegenwart zu meistern und die Zukunft nicht zu verspielen.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik weiß, obwohl sie nicht regiert, wie man das macht: „Seit ihrer Gründung 1975 war für die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die Forderung nach einem staatlichen Investitions- und Ausgabenprogramm zentraler Bestandteil ihrer wirtschaftspolitischen Agenda.“ [MEMORANDUM S. 8] Das Geld dafür soll aus der Abschaffung der Schuldenbremse und aus Steuererhöhungen kommen. – Das Wort „Steuererhöhung“ kommt im MEMORANDUM allerdings nicht vor, nur an einer Stelle wird verschämt davon gesprochen: „Die Erzielung höherer Steuereinnahmen ist überhaupt nicht im Fokus der Debatte.“ [MEMORANDUM S. 10]
Beurteilung der Gesundheitsversorgung durch die Alternativen
Ziemlich zustimmen kann man der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zu dem Bereich „Gesundheitsversorgung auf falschem Pfad“, Punkt 7, Seite 12 f. des MEMORANDUMS. Deutschland hat beileibe kein schlechtes Gesundheitssystem. Doch von den Kosten her gesehen, hat es, laut den Quellen, die die Alternativen heranziehen, nach der Schweiz und Frankreich das drittteuerste Gesundheitssystem in Europa. »Diesen hohen Ausgaben stehen Defizite bei der Leistungsfähigkeit gegenüber. Aus Sicht der europäischen Beobachtungsstelle für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik ist das deutsche System durch erhebliche Strukturmängel geprägt. Auch der „Euro Health Consumer Index“ (EHCI) bescheinigt dem deutschen Gesundheitssystem lediglich eine befriedigende bis gute, aber keine überragende Leistungsfähigkeit. Gut bis sehr gut schneidet das deutsche System bei der Reichweite der von den Krankenkassen übernommenen Leistungen, bei der Akutversorgung und den Wahlrechten der Patientinnen und Patienten ab. Deutliche Defizite gibt es dagegen bei der Versorgung von Menschen mit chronischen Mehrfacherkrankungen und dauerhaftem Pflegebedarf, bei der Vermeidung überflüssiger Operationen und von Komplikationen im Falle einer Krankenhausbehandlung, bei der Digitalisierung sowie bei der Aufwertung der Pflege. Ein großes Problem, dem gleichwohl wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, stellt die stark gewachsene Gesundheitsungleichheit dar.«
Das deutsche Gesundheitssystem zu ändern ist natürlich kompliziert und im Augenblick besteht wahrscheinlich auch keine genügende politischer Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Parteien. Außerdem sollte man bedenken, dass es das Gesundheitssystem mit rundum zufriedenen Patienten nicht geben wird. In der DDR war das Gesundheitssystem staatlich und hatte dennoch auch Nachteile (übermäßige Verwaltung, Zweiklassensystem, eins für höhere Funktionäre und Stasi und eins für normal Sterbliche). Vielleicht haben dennoch die Alternativen etwas Recht: „Nach Auffassung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ist bei der Gesundheitsversorgung ein Punkt erreicht, an dem grundsätzlich neue Weichenstellungen geboten sind. Die Grundprobleme des deutschen Gesundheitssystems liegen in den fragmentierten Strukturen, deren Steuerung gleichermaßen einer Markt- und Wettbewerbslogik wie einer Logik der korporatistischen Selbstverwaltung folgt.“ [MEMORANDUM S. 13]
In einigen Punkten ihrer Abrechnung mit der aktuellen Wirtschaftspolitik kann man also der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik durchaus zustimmen – u.a. auch, dass man Leiharbeit verteuern müsste, um keinen Anreiz für sie zu geben – aber ob sie insgesamt eine bessere Wirtschaftspolitik als gegenwärtig betreiben würde, wenn sie das Sagen hätte, ist doch fraglich.