Der vorliegende Blogbeitrag schließt sich an dem Blogbeitrag vom Mai 2018 an: Wie wird ein Land durch den Kapitalismus reich?, jedoch aus einem anderen Blickwinkel.
In der jetzigen Zeit der Corona-Krise prasseln von allen Seiten Forderungen auf den deutschen Staat ein: Das Kurzarbeitergeld von 60 bzw. 67 Prozent ist zu wenig, es sollte aufgestockt werden, die Krankenhäuser haben zu wenig Kapazitäten und sollten mit mehr Finanzmitteln ausgestattet werden, und selbst Jugendherbergen melden finanzielle staatliche Unterstützung an, wenn sie überleben sollen. Alle Leute, so hört sich das an, rufen nach zusätzlichem Geld, um die Krise zu überstehen – was aber in dieser Diskussion dabei zu kurz kommt, wie erhält oder gar mehrt ein Staat oder ein Land seinen Reichtum, um all den Herausforderungen gerecht zu werden? Dabei soll es weniger um den Staatshaushalt und eine guten Haushaltsführung gehen, denn nur wenn man ordentlich gehaushaltet hat, kann man in einer Notsituation auch einmal Reserven angreifen, sondern um eine langfristige Politik, die Reichtum mehrt.
Der Kapitalismus allein ist es nicht, der für genügend und ausreichenden Reichtum für alle sorgt! Denn dann dürften 80 Prozent der Länder auf der Welt nicht arm, sondern müssten reich sein, sie haben als Wirtschaftsform meist Kapitalismus. Da muss man als Land schon ein bisschen mehr tun, als nur eine bestimmte Gesellschaftsform einführen. Das zeigen die zwanzig Prozent reichen Länder, zu denen auch Deutschland gehört. In ihnen findet eigentlich (weniger in der Bevölkerung, sondern unter Ökonomen und Politiker) ständig eine Diskussion statt, wie können wir langfristig unseren Reichtum erhalten. Zum Beispiel meint Henrik Müller, seines Zeichens Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund, dass Deutschlands Industriepolitik zu wenig zukunftszugewandt ist: „VÖLLIG UNSINNIG SIND NUMERISCHE ZIELE. Wirtschaftsminister Peter Altmaier will einen Industrieanteil von 25 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, die EU strebt europaweit 20 Prozent an. Warum sollte der Staat die Fertigung von Dingen fördern? Das ist teuer, unnötig und ineffektiv, wie die Milliarden zeigen, die in die Produktion von Solarzellen oder Handys geflossen sind – das Geld ist weg, die Betriebe sind längst verschwunden.“ [manager magazin 2019/05 S. 110] Statt dessen sollte man lieber in die Sphäre immateriellen Wirtschaftsgüter („Intangibles“) investieren, sagt er. „Wie viel Apple, die Google-Mutter Alphabet oder SAP, Deutschlands teuerster Konzern, wert sind, hat nichts mit Maschinen oder Gebäuden zu tun – sondern mit Wissen, Algorithmen, Marke, Design. Ihr Output ist nichts, das unter Einsatz von Material und Energie zusammengebaut wird – auch Apple lässt die Geräte weitgehend von Dritten fertigen. Doch ihre Produkte sind wertvoll.“ [Quelle: Ebendort]
Was Henrik Müller in Bezug auf Solarzellen und Handys äußert, ist richtig, genauso ist das Festschreiben von Industrieproduktion von 25 % unsinnig. Der Autor meint, wie schon erwähnt, dass der deutsche Staat lieber in immaterielle Wirtschaftsgüter investieren sollte. Zur Unterstützung seiner Meinung führt er eine Grafik an, die zeigt, dass Deutschland bei den Investitionen in Intangibles (immatrielle Wirtschaftsgüter) verglichen mit anderen Ländern zurückliegt. s. nächste Grafik. Der Autor hat dabei vier Länder im Blick, die er mit Deutschland vergleicht: USA, Schweden, Schweiz, Frankreich. Alle vier Länder stehen bei den Investitionen in Intangibles besser da als Deutschland.
Allerdings wird es jetzt mit der Meinung von Müller kritisch, denn er fragt nicht, ob es vielleicht eine Eigenheit von Deutschlands Industriestruktur ist, dass es bei den Investitionen von Intangibles schlechter abschneidet als die anderen vier Länder. Als nächstes ist kritisch, wie es denn der deutsche Staat bewerkstelligen soll, dass seine Unternehmen mehr bei den Intangibles investieren als jetzt! Hat er denn so viel Einflussmöglichkeiten? – Bestimmt nicht! Aber diese Fragen stellt Müller in seinem Artikel, für den er zugegeben nur eine Zeitschriftenseite Platz hat, erst gar nicht,
Um zu erkennen, ob Deutschland gegenüber den anderen vier genannten Staaten wirklich in Zukunftsinvestitionen soweit zurück liegt, sehen wir uns einmal einen Vergleich bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F+E) am Brutto-Inlandsprodukt (BIP) an. Siehe nächste Grafik.
Hier sieht man deutlich, so schlecht steht Deutschland bei den F+E-Ausgaben im Vergleich mit den vier Ländern gar nicht da. Das weist darauf hin, dass die Schwäche bei den Investitionen in Intangibles (s. weiter oben) nur eine Besonderheit von Deutschlands Industriestruktur ist: Konzentration auf Maschinenbau, Chemieindustrie, Autoherstellung; und beim Maschinenbau und bei der Autoteilezulieferung dominieren vor allem kleine und mittelgroße Betriebe.
Einschränkend muss man allerdings bemerken, dass die Höhe der F+E-Ausgaben noch nichts über die Qualität der Forschung und Entwicklung aussagt. Sonst brauchte ja auch nur ein Entwicklungsland seine F+E-Ausgaben stark erhöhen, um in die Spitze der reichen Nationen aufzurücken. Die Autorin Mariana Mazzucato, die schon über Jahre zu Voraussetzungen für Innovationen in Industrieländern forscht und die dazu auch ein Buch geschrieben hat, formuliert z.B. das so: „Die Vereinigten Staaten und Deutschland wurden aus unterschiedlichen Gründen zu wirtschaftlichen Großmächten [gemeint in der Vergangenheit, Seb. Sol.], aber sie hatten eines gemeinsam: Ihr Bestreben war es, Innovationssysteme zu errichten, und nicht nur, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu steigern.“ [Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates – Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2014, S. 54 f., Hervorhebung von Seb.Solt.] An anderer Stelle spricht diese Autorin von Ökosystemen für Innovation, unter denen sie das Zusammenspiel von Staat, Forschungseinrichtungen und Wirtschaft versteht. [Ebenda, S. 228] Eine Hauptthese des Buches ist übrigens, dass der Staat bei vielen Basisinnovationen im 20. Jahrhundert vorangegangen ist, sie angestoßen hat und finanzielle Mittel zur Verfügung stellte, dabei durchaus in Betracht ziehend, dass manche Forschungen auch kein Ergebnis brachten. Die Autorin stellt sich damit gegen eine weitverbreitete Lesart, besonders in den USA, dass viele wichtige Grund-Innovationen auf das Konto der Wirtschaft gingen.
Was dabei beeindruckend ist, mit welcher Zielstrebigkeit die staatlichen Stellen der USA die Forschung für Basisinnovationen förderten. (Diese Zielstrebigkeit scheint den bundesdeutschen Behörden zu fehlen.) Beispielhaft ist die Geschichte in den 1950er Jahren, als große Rüstungskonzerne der USA mit ihrer enormen Macht Druck und Forderungen nach Innovationen abwehrten. Sie wollten bestimmte Risiken vermeiden, die mit ungewissen technischen Entwicklungen verbunden waren. Doch der US-Staat schuf ein neues Umfeld mit ambitionierten Start-ups, die er finanziell unterstützte, und so wuchsen die Chancen für echten Wettbewerb. [Mazucato, a.a.O. S. 102-104]
In Deutschland gab es in den 2010er Jahren eine Diskussion um die Entwicklung der Batterieforschung für Elektro-Autos. Die großen Autokonzerne wehrten indessen ab, sie wollten lieber weiter in Verbrennungsmotoren investieren. Der deutsche Staat setzte sich nicht gegen sie durch, was sich aber als Fehler gegen Ende des Jahrzehnts herausstellte.
Der Staat ist manchmal genötigt, eine Pionier- oder Vorreiterrolle bei Basisinnovationen einzunehmen und sich auch gegen Widerstände durchzusetzen. Ob er das schafft, davon künden keine Statistiken für F+E-Ausgaben, sondern letztlich, ob Erfindungen aus dem Land kommen und vermarktet werden oder nicht.
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[…] Nun ist die Blaue Banane nicht gottgegeben. Auch außerhalb von ihr sind industrielle und Wissenschaftszentren entstanden. Denken wir nur an den Großraum Paris oder in Deutschland in Sachsen. Überhaupt, bezüglich F+E-Ausgaben (Forschungs- und Entwicklungsausgaben) muss Deutschland den Vergleich mit der Schweiz nicht scheuen, beide Länder liegen beim Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in etwa gleich auf, bei etwa 3 Prozent. [s. dazu auch die Grafik“Anteil der F+E-Ausgaben am BIP von 5 OECD-Ländern von 2008 – 2018“ in https://oekonomie-kompakt.de/wie-wird-ein-land-durch-den-kapitalismus-reich-2/%5D […]