Seitdem der IWF (Internationaler Währungsfonds) 2016 sich selbst dem Begriff des Neoliberalismus gestellt und anerkannt hat [Link], dass dieser Begriff auch einen realen Inhalt hat und nicht nur ein verleumderischer politischer Kampfbegriff ist, lässt sich vielleicht sachlicher darüber diskutieren.
Interessant finde ich die ursprünglichen ökonomischen Ausgangsbedingungen, sozusagen die „ökonomischen Grundlagen“ oder die wirtschaftlichen Umstände zu der Zeit zu betrachten, als sich der Neoliberalismus zur Herrschaft aufschwang. Meiner Meinung nach geschah das in den siebziger/achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den entwickelten Industriestaaten. Doch bevor dies genauer betrachtet werden soll, zwei Grafiken vorweg, die die Konsequenzen des damals aufkommenden neuen Gedankengebäudes veranschaulichen sollen:
Ein paar Worte zu dieser Grafik: Die soziale Mobilität ist nicht einfach zu messen. Eine Methode ist – wie vorliegende – den Anteil der Einkommen der Kinder, der sich auf die Eltern zurückführen lässt, zu messen und darzustellen. Wenn dieser Anteil sinkt, dann steigt die soziale Mobilität, steigt aber dieser Anteil, wie 1990 und 2000, dann sinkt die soziale Mobilität. Die Messung kann nur über einen langen Zeitraum erfolgen, mindestens zwei Generationen.
Eine zweite Grafik soll die obere Grafik ergänzen, und zwar zeigt sie, wie der Vermögensanteil des obersten 1 Prozents in den USA in demselben Zeitraum gewachsen ist:
Auf alle Fälle sieht man aus den beiden obigen Grafiken, dass sich bezüglich sozialer Mobilität und Vermögensverteilung in den achtziger Jahren etwas Grundlegendes in den USA ereignen haben muss (und nicht nur in den USA, sondern auch in anderen westlichen Industriestaaten!). Und dieses Ereignis ist die beginnende Herrschaft des Neoliberalismus. (In den USA auch als Reaganomics oder Neokonservatismus bezeichnet, in Großbritannien als Thatcherismus).
In den siebziger Jahren ging etwas zu Ende, das als allgemeine Wohlstandserhöhung in den kapitalistischen Industriestaaten bezeichnet werden kann. Sowohl Kleinverdiener als auch Großverdiener partizipierten daran, und man kann die vorhergehenden zwei Jahrzehnte auch mit dem Slogan, den J.F. Kennedy geprägt haben soll, „eine steigende Flut hebt alle Boote“, bezeichnen.
Die siebziger Jahre waren aber nicht mehr von „steigender Flut in der Wirtschaft“ geprägt. Zwei externe Schocks erschütterten die Wirtschaft in den Industriestaaten, die Ölpreiserhöhungen 1973/74 und 1979. In deren Gefolge die Inflation, die Arbeitslosigkeit und Insolvenzen von Unternehmen stiegen.
Um das zu verdeutlichen, soll eine Grafik und eine Zahl angeführt werden. Die Grafik:
Die Inflationskurve in den USA von 1950 bis 1985 ist geglättet, um ein eindeutigeres Bild zu erhalten. Das heißt, für jedes Jahr wurde die Inflation des vorhergehenden und des nachfolgenden Jahres berücksichtigt und der Durchschnitt gebildet. So können Ausrutscher eher eliminiert werden.
Man sieht, Mitte der 60er Jahr erhöhte sich die Inflation in den USA. Das hängt sehr wahrscheinlich mit den Ausgaben des Vietnamkrieges zusammen. Nach einem kurzen Abflauen schoss dann die Inflation 1973/74 erneut hoch, diesmal noch höher als vorher (1. Ölpreisschock) und der dritte Peak war Ende der 70er Jahre erreicht (2. Ölpreisschock).
Fast in allen kapitalistischen Industriestaaten schnellten die Arbeitslosenzahlen aufgrund der Erdölpreiserhöhung nach oben. In dem Exportland Bundesrepublik Deutschland besonders, weil zwar der hohe Export die Wirtschaftskrise milderte, aber der Strukturwandel (Eisen und Stahl) zu schaffen machte. 1970 waren es noch 148 Tausend Arbeitslose, 1982 waren es schon 1,83 Mio. Arbeitslose, also eine Verzwölffachung! Das belastete natürlich ungeheuer die Sozialkassen. Zumal sich auch Langfristarbeitslosigkeit verfestigte.
Irgendetwas musste getan werden. Thilo Sarrazin beschreibt in seinem Buch „Europa braucht den Euro nicht“ (Deutsche Verlagsanstalt München, 2012, 1. Auflage) gleich in seinem 1. Kapitel („Von der deutschen Währungsreform zum Europäischen Währungssystem – die Vorgeschichte der Europäischen Währungsunion“) sehr anschaulich vor welchem Dilemma die Politiker standen: Die Staatsverschuldung stieg aufgrund der hohen Sozialausgaben stark an, die bisherigen Finanzinstrumente (Kredite in der Krise) versagten, sie trieben die Staatsverschuldung noch mehr an. War der Sozialstaat am Ende, oder konnte man ihn durch Sparen retten? In diese zwei Lager teilten sich die Meinungen. Auf alle Fälle stand fest, so wie bisher gewirtschaftet war, ging es nicht weiter.
Natürlich musste gespart werden, auch bei den Sozialausgaben und bei den Arbeitslosen. Aber interessant ist, welchen Dreh die ganze Geschichte bekam. Mit am deutlichsten wird das bei dem Wechsel der sozial-liberalen zur christlich-liberalen Koalition 1982 in Deutschland, man kann auch sagen bei dem Sturz des Kanzlers Helmut Schmidt durch die Liberalen und Christdemokraten und der Ersetzung durch Helmut Kohl. Zuvor hatte der liberale Wirtschafts-Bundesminister Otto Graf Lambsdorff ein Papier erarbeitet (Lambsdorff-Papier), das die neue Wende in der Wirtschaftspolitik beschrieb. Dazu der Soziologe Christoph Butterwegge, 25 Jahre nach dem Erscheinen des Papiers:
„Lambsdorffs Denkschrift war mehr als eine koalitionspolitische Scheidungsurkunde, denn damit errang der Neoliberalismus die öffentliche Meinungsführerschaft in der Bundesrepublik. Was den Marktradikalen bereits in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan gelungen war, schafften sie nach dem Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl nun auch hierzulande: Der Interventionsstaat wurde einer Fundamentalkritik unterzogen und unter dem Beifall der Massenmedien eine rigorose ‘Reform’-Politik eingeleitet, die rückwärtsgewandt und ‘modern’ zugleich ausfiel. [Seb.Sol: Wobei man sich streiten kann, was ‘rückwärtsgewandt’ ist, nur weil Teile einer Theorie schon einmal verwendet…? Dann sind die meisten Theorien rückwärtsgewandt!]
Zu den erklärten Zielen des Memorandums gehörten eine spürbare Erhöhung der Kapitalerträge und eine ‘relative Verbilligung des Faktors Arbeit’. Dort wurde auch das neoliberale Dogma formuliert, wonach man die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber – in heutiger Diktion: die ‘gesetzlichen Lohnnebenkosten’ – verringern muss, um der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden. Erfolgversprechend sei nur eine Politik, hieß es weiter, die der Wirtschaft durch Schaffung ‘möglichst günstiger’ Investitionsbedingungen wieder den ‘Glauben an die eigene Zukunft’ gebe.
Während den Unternehmen eine ‘Verbesserung der Ertragsperspektiven’ und ‘in besonderen Fällen auch gezielte Hilfen’ versprochen wurden, ließ das Lambsdorff-Papier keinen Zweifel daran, dass sich die ArbeitnehmerInnen und Bedürftigen künftig selbst helfen statt noch auf den Sozialstaat hoffen sollten.“ (Christoph Butterwegge: Drehbuch für den Sozialabbau.)
Der Sozialstaat in der Bundesrepublik wurde nicht völlig demontiert, wer das behauptet, ignoriert den Sozialtransfer für die unteren Schichten der Bevölkerung. Aber man kann nicht eine gewisse Kapitallastigkeit oder -bevorzugung, die es vor den siebziger Jahren nicht gegeben hatte, verkennen. Ein ganz deutlicher Ausdruck war die Banken- und Finanzkrise 2008/09, indem der Staat plötzlich mit Milliarden-Summen für Banken und Finanzinstitutionen einspringen musste, die bei einem Bankrott das Finanzwesen der Bundesrepublik gefährdet hätten. Vor 2008 hatte sich der Staat (und nicht nur der deutsche auch andere Industriestaaten) immer mehr aus der Regulierung der Banken und des Finanzwesens zurückgezogen, unter der Devise, der Markt reguliert sich selbst. Auch an dem Spruch von Kanzler Gerhard Schröder, der für die Arbeitslosen ein ‘Fordern und Fördern’ parat hatte, das aber nicht für die Unternehmer gelten sollte, lässt sich die neue Linie ablesen. Ebenso war jetzt in den USA nicht mehr die Rede von der steigenden Flut, die alle Boote hebt, sondern von der „trickle-down“-These. Man könnte etwas bösartig sagen: Von dem, was bei den immer Reicheren durchsickert, bekommen auch die Armen etwas ab.
Dass eine Gesellschaft vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten stand, trat in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht das erste mal auf. Entscheidend ist, wie eine Gesellschaft darauf reagiert. Man kann versuchen, enger zusammenzustehen, und den geringer werdenden Kuchen einigermaßen gerecht aufzuteilen. Ein Beispiel dafür ist das Handeln von Franklin D. Roosevelt mit seinem neuen Deal in den USA in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man kann aber auch eine nationalistische Politik betreiben, indem man Bevölkerungsgruppen von der Gesellschaft ausschließt und sie benachteiligt, oder einen Krieg gegen andere Völkergruppen beginnt und diese dann benachteiligt (extremstes Beispiel, die deutschen Nationalsozialisten). Keine nationalistische, aber eine sozialspaltende Politik ist die des Neoliberalismus, indem er Kapital- und Geldbesitzer begünstigt, Chancengleichheit immer mehr abschafft (s. erste Grafik), und so einen Spaltpilz in die Gesellschaft setzt.
Ob es überhaupt eine Chance unter den Industrie-Staaten gegeben hätte, sich dem weltweiten neoliberalen Trend zu widersetzen, ist vielleicht einer weiteren Untersuchung wert.
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[…] Dieser Blogbeitrag ist eine Fortsetzung des Blogbeitrages vom Jan. 2019 Die “ökonomischen Grundlagen” des Neoliberalismus. […]