Hat die schwarze Null des deutschen Bundeshaushaltes wirklich keinen Sinn, wie Sebastian Dullien meint? Muss man die schwarze Null nicht doch differenzierter betrachten?
Wenig ist so umstritten wie die schwarze Null im Bundeshaushalt seit 2014. Während die Regierungsparteien klatschen, wenn der Bundesfinanzminister verkündet, er wolle auch im laufenden Haushalt Ausgeglichenheit, d.h. keine neue Schulden, anstreben (so erst geschehen in der letzten Haushaltsdebatte am 14. Mai 2018 vom neuen SPD-Finanzminister Olaf Scholz), so kritisieren die Oppositionsparteien und auch Ökonomen dieses Vorhaben.
Dass die Oppositionsparteien dagegen sind, ist klar, denn die sind fast immer dagegen, was die Regierung tut, und außerdem wollen sie ja nicht sparen, wenn sie an die Regierung kommen. Aber dass auch Ökonomen dagegen sind, verwundert schon. Sebastian Dullien, seines Zeichens Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, schrieb Ende 2016 einen Artikel in der Zeitschrift „Die Zeit“ mit der Überschrift „Bundeshaushalt: Schäubles schwarze Null hat null Sinn“. Fast möchte man klatschen wegen des hervorragenden Ausdrucks und des sprachlichen Bilds in der Überschrift. Aber inhaltlich kann man bei solch einer Überschrift leider keinen Beifall spenden. Da würde man ein wenig mehr Ausgewogenheit erwarten, noch bei einem Professor.
Nämlich, erst einmal muss man betonen, was Wolfgang Schäuble zum ersten Mal seit Beginn der Bundesrepublik über mehrere Jahre gelungen ist: ausgeglichene Bundes-Haushalte vorzulegen. Das passierte bis dahin immer nur in einzelnen Jahren. Man kann das nicht genug würdigen, denn es ist viel leichter, Geld auszugeben als zu sparen und mit den eingenommenen Mitteln zurecht zu kommen. Das gilt sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich.
Sparen im Bundeshaushalt macht nie Spaß, schon deshalb, weil die Politiker der nächsten Wahlperiode vielleicht das Geld wieder ausgeben, das die vorherige Regierung eingespart hat. Aber richtig weh tut es, wenn man erst einmal in der Verschuldungsspirale drin steckt, d.h. wenn die Zinsen für die Schulden größer und größer werden und man weitere Schulden aufnehmen muss, um sie zu begleichen. Man arbeitet dann gewissermaßen nur noch für die Zinsen. So genau kann man es nicht sagen, wenn es passiert, aber der Autor Daniel Stelter, der mehrere Bücher zur Verschuldungsproblematik geschrieben hat, schätzt, dass bei ca. 150 Prozent Staatsverschuldung vom BIP es keine Rettung mehr gibt. Bei 120 % vom BIP ist eine kritische Stelle erreicht, und 60 % Staatsverschuldung vom BIP sind noch annehmbar. Die Bundesrepublik hatte 2010 80% Staatsverschuldung vom BIP erreicht, sie war also schon auf einem gefährlichen Weg. Immerhin betrugen die Ausgaben für die Zinszahlungen (diesmal nur für den Bundeshaushalt) zwischen 14 und 15 % des Etats. 2017 lagen die Ausgaben für die Zinszahlungen bei 8 % des Etats. In den Nuller Jahren des neuen Jahrhunderts sah es so aus, als könne man gar nicht mehr ohne eine Neuverschuldung auskommen, und manchmal lag sie über 10 % des Bundes-Haushaltes! Das war auch eine Folge der hohen jährlichen Zinszahlungen, die entweder aufgebracht oder durch Neuverschuldung aufgefangen werden mussten. Dabei sieht man schon, dass sich der deutsche Staat in einer kleinen Verschuldungsspirale bewegte. Deshalb ist es am besten für den Staat, so wenig wie möglich Schulden zu haben, weil dann auch die Zinszahlungen gering sind.
Nun war Finanzminister Schäuble nicht ein solch exzellenter Finanzminister, der es schaffte, was vorher kein bundesdeutscher Finanzminister geschafft hatte, sondern er nutzte die „Gunst der Stunde“, sprich das niedrige Zinsniveau, aus, um endlich einmal ohne neue Schulden auszukommen. Er unterbrach damit den Verschuldungsreigen der bisherigen Finanzminister. Er tat das in Übereinstimmung mit dem Maastricht-Kriterien, wonach eine Schuldengrenze von 60 % des BIP maximal vorgesehen ist (Deutschland hatte 2010 80,9 % erreicht und wird voraussichtlich 2019 wieder unter 60 % liegen). Und außerdem handelte Schäuble nach den Regeln des Ökonomen John Maynard Keynes, der meinte, der Staat solle sich in einer Rezession verschulden, um dem Abschwung entgegenzuwirken, und solle sich im Aufschwung entschulden.
Die Vorwürfe des Sebastian Dullien
Was warf aber der Professor für Volkswirtschaftslehre, Sebastian Dullien, Schäuble vor? Warum taugte die schwarze Null seiner Meinung nach nichts?
Um es kurz zu sagen, Dullien meint, dass der niedrige Zinssatz für deutsche Staatsanleihen den Finanzminister Schäuble (und auch nachfolgenden Minister) hätte anregen sollen, kräftig in die Infrastruktur des Landes, in den Breitbandausbau des Internets und in die Bildung zu investieren. Er sagt: „Ein Unternehmenschef, der bei niedrigen Schulden und Zinsen hoch rentable Investitionen ablehnt, würde aus dem Amt gejagt. Doch für Finanzminister gelten andere Regeln.“ Den letzten Satz meint er natürlich ironisch.
Nun kann man aber den Staat nicht hundertprozentig mit einem Unternehmen gleichsetzen. (Darin hat Dullien schon erst einmal Unrecht.) Freilich muss auch ein Staat, ähnlich wie ein Unternehmen solide wirtschaften, darf sich nicht zu sehr verschulden und muss, auch das ist wichtig (und hier kommen wir auf den Punkt, auf den Dullien hinaus will), dafür sorgen, dass seine Unternehmen eine ordentliche Infrastruktur benutzen können (dafür zahlen sie ja auch Steuern!). Dullien ist der Ansicht: „Die deutsche Wirtschaft wächst im Trend um vielleicht 1,5 bis 2 Prozent pro Jahr. Die Bevölkerung wächst dank Zuwanderung. Der öffentliche Kapitalstock aber bleibt bestenfalls unverändert. Im Klartext heißt das: Eine immer größere Wirtschaft soll auf dem Fundament einer Infrastrukturausstattung wie aus den späten 1990ern stehen. Wie eine moderne, wachsende Volkswirtschaft ohne Verbesserungen in der Verkehrs-, Daten- und Verwaltungsinfrastruktur auskommen soll? Das hat auch Finanzminister Schäuble noch nicht überzeugend erklären können.“ – Also die Kernfrage ist, investiert der deutsche Staat zu wenig in die Infrastruktur (d.h. in Gebäude, Straßen, auch in Bildung)?
In einer Studie des Institutes der deutschen Wirtschaft Köln „Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig?“ von 2017 kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es gar nicht so einfach ist, allein an Hand der staatlichen Investitionsausgaben in Gegenüberstellung zum BIP zu beweisen, dass der Staat zu wenig investiert. Da spielen u.a. Definitionsfragen der statistischen Größen eine Rolle. Aber wenn man z.B. das konkrete Alter von Bauwerken einbezieht, dann kommt man zu dem Ergebnis: „Allein der Bund hat zwischen 2005 und 2015 etwas über 100 Milliarden Euro in seine Verkehrswege investiert. Dennoch legen Altersstruktur und Modernitätsgradbetrachtungen nahe, dass die Investitionen in diese zentrale Infrastruktur seit langem nicht mehr ausreichen, um Substanzverluste auszugleichen.“ „Von den Brücken in kommunaler Baulast fielen im Jahr 2013 rund 19 Prozent in die kritischen Kategorien. Etwa 10.000 kommunale Brücken galten als nicht mehr sanierungsfähig und müssen ersetzt werden.[…] Noch problematischer wird es bei den Schienenwegen. Zwar sind gerade durch die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit einige neue Strecken hinzugekommen. Wichtige Teile des Netzes sind aber bereits sehr alt. Das Durchschnittsalter der Eisenbahnbrücken liegt bei etwa 56 Jahren, fast 10.000 Eisenbahnbrücken wurden noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut. Der Sanierungsrückstand wird von der Deutschen Bahn auf 30 Milliarden Euro geschätzt. […] Die ungünstigste Altersstruktur weisen aber die Binnenwasserstraßen des Bundes auf. Zu diesen gehören etwa 600 Schleusen und Wehre, deren Durchschnittsalter bei 70 beziehungsweise 65 Jahren liegt (Deutscher Bundestag, 2015). Tatsächlich stammen einige der wichtigsten Schleusenwerke, wie etwa die am Nord-Ostsee-Kanal, noch aus der Kaiserzeit. Auch hier ist der Nutzwert deutlich eingeschränkt, da die alten Schleusen immer häufiger ausfallen, was einer Vollsperrung der Wasserstraße gleichkommt – ohne die Möglichkeit, eine Umleitung einzurichten. “ [„Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig?“ S. 34, 35]
Bei der Bildung listet Dullien die Ausgaben für diesen Bereich für einzelne OECD-Länder auf und kommt zu dem Schluss, dass die Deutsche Bundesrepublik zu wenig für die Bildung ausgibt, weil sie in der Rangfolge von 23 Ländern auf dem hinteren 18. Platz liegt. Ob das wirklich ein Alarmsignal ist, ist schwer zu beantworten, und dafür reicht die Liste nicht aus, denn die USA, die auf dem 10. Platz der OECD-Liste liegen, haben nicht unbedingt das bessere Bildungssystem als Deutschland.
Und auch bei dem Internet-Breitbandausbau meint er, etliche Länder, die Schweiz, sogar Frankreich wären viel besser als Deutschland. „Bei der gemessenen durchschnittlichen Download-Geschwindigkeit rangiert Deutschland bestenfalls im Mittelfeld.“ (Wohlgemerkt gilt diese Einschätzung für 2015!) [s. „Bundeshaushalt: Schäubles schwarze Null hat null Sinn“]
Hat Deutschland vielleicht doch in den letzten Jahren zu viele Mittel für Wahlversprechen der regierenden Parteien ausgegeben und zu wenig in die Infrastruktur investiert? Das ist natürlich immer ein Balance-Akt, wofür man die Einnahmen des Staates ausgibt und wo man spart. Sowieso schreien alle Minister und Institutionen, sie wollen mehr Geld.
Es kommt also beim Staatshaushalt nicht nur darauf an, nicht über seine Verhältnisse zu leben, sondern mit den vorhandenen Mitteln auch effektiv umzugehen und die Zukunft des Landes zu sichern. Wenn Sebastian Dullien das meinte, dann hätte er es doch ein wenig anders ausdrücken müssen, und sich nicht einfach hinstellen dürfen und sagen, die schwarze Null hat null Sinn.
Eine weitere Schwachstelle der schwarzen Null
Auf ein weiteres Problem in Bezug auf den deutschen Staatshaushaltes soll im folgenden noch aufmerksam gemacht werden. Deutschland gehört der Eurozone an. Wie haben denn die anderen Euro-Mitglieder die letzten prosperierenden Jahre genutzt, um ihre Staatshaushalte in Ordnung zu bringen? Dazu folgende Grafik:
Gerade Deutschland konnte von den 10 stärksten Eurozonen-Staaten seine Schulden in den letzten drei Jahren senken, bei den übrigen neun gelang das nicht. (Und das waren wohlgemerkt prosperierende wirtschaftliche Jahre mit äußerst niedrigen Zinsen! Wie soll das erst aussehen, wenn wirtschaftlich schwache oder gar Rezessionsjahre eintreten?) Der Druck auf Deutschland, die Schulden der Euro-Mitglieder zu „vergemeinschaften“ wird wachsen.
Offensichtlich haben die bisherigen Regeln zur Verschuldung im Euroraum nicht ausgereicht, um eine strenge Haushaltsdisziplin durchzusetzen. Deutschland ist gewissermaßen einen einsamen Weg der Haushaltskonsolidierung gegangen. Das nützt Deutschland aber nichts, wenn es nicht die anderen Länder auch tun. Entweder geben die Euro-Mitglieder bisherige nationale Finanz-Kompetenzen ab, oder sie verpflichten sich per Verfassung zur Haushaltsdisziplin, ähnlich wie in dem Nicht-Euro Land Polen, wo die Verfassung vorschreibt, dass beim Überschreiten von 55% der Staatsschuldenquote die Regierung gezwungen ist, schwerwiegende Maßnahmen zu ergreifen, um das Limit wieder einzuhalten. Bei Überschreitung von 60% ist die Regierung gezwungen, den Haushalt ohne weitere Verzögerung auszugleichen. Dieser Passus in der polnischen Verfassung kommt nicht von ungefähr, denn Anfang der 90er Jahre hatte Polen eine schlimme Inflation, die, wie immer bei solchen Erscheinungen, besonders Rentner, sozial schwache Menschen und Menschen mit Ersparnissen traf.
Die Achillesferse des Euro-Raumes ist im Augenblick Italien, hier liegt die Verschuldung bei 132 % vom BIP. Die Situation des drittgrößtes Landes der Eurozone ist fast schon aussichtslos, weil dazu noch politischer Reform-Stillstand und wirtschaftliche Stagnation kommen. Die Mehrheit der Bürger in Italien sieht keinen anderen Ausweg, als den Versprechungen von populistischen Parteien zu glauben. Diese Parteien wollen natürlich nicht den ungeliebten Weg des Sparens gehen, sondern eher des Geldausgebens, wie gerade die Koalition von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung verkündet hat. So oder so, es wird bitter für Italien und letztlich auch für die Eurozone, deren Bestand – mindestens in der jetzigen Form – gefährdet ist.