Wie sind die Vorschläge Sahra Wagenknechts zum Finanzsektor zu werten?
[In der Buchbesprechung zu Sahra Wagenknechts „Kapitalismus ohne Gier“ wurde angekündigt, weitere Artikel zu ihrem Thema, notwendiger Umbau des Kapitalismus, zu veröffentlichen. Diesmal werden ihre Vorschläge zu einer Reform des Bankensektors unter die Lupe genommen.]Eigentlich sollte ein Wissenschaftler keine Vorurteile haben, zumindest nicht auf seinem Fachgebiet, weil sie ihn hindern, Neues zu entdecken. Eher ist man gewöhnt, dass Politiker von Vorurteilen oder Voreinstellungen geprägt sind. Solche können sein, mein Volk ist das beste der Welt, die Bestverdiener der Gesellschaft sind immer die fleißigsten Menschen, der Kapitalismus ist an und für sich schlecht.
Bei Sahra Wagenknecht haben wir es mit einem speziellem Vorurteil zu tun. Sie verdammt nicht den Kapitalismus in Bausch und Bogen, denn sie lässt den Einzelunternehmer oder den persönlich haftenden Unternehmer gelten (s. vorherigen Beitrag – Nr. 2 – zur Wagenknecht-Serie). Aber sie möchte auch nicht staatliche Unternehmen nach den Erfahrungen des real existierenden Sozialismus befürworten. Statt dessen ist sie von einer Art von Unternehmen (neben der Mitarbeitergesellschaft, die wir bei ihr im letzten Beitrag analysierten, und die wir deshalb heute beiseite lassen) sehr angetan, die sie Gemeinwohlunternehmen oder -gesellschaft nennt. Sie meint, der Gemeinwohlnutzen würde sich bei dieser Art von Gesellschaft automatisch einstellen. Und sie schlägt vor, dass sich Banken deshalb in solche verwandeln sollten. Unter Gemeinwohlgesellschaft versteht die Autorin: „Sie bietet sich für alle Bereiche an, die sich nicht für eine kommerzielle Unternehmensführung eignen: sei es, weil sie aufgrund der Bindung an Netze oder des Auftretens von Netzwerkeffekten (oder beidem) zum Monopol tendieren, sei es, weil die erbrachten Güter und Leistungen elementare Lebensbedürfnisse betreffen, die nicht nach persönlicher Kaufkraft, sondern für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollten.“ (s.Seite 281)
Gemeinwohlgesellschaften treten heute schon als kommunale Betriebe für Wasser und Abwasser auf, die nicht gewinnorientiert sind, sondern kostendeckend arbeiten sollen. Wagenknecht möchte Gemeinwohlgesellschaften auch im Krankenhausbereich und in der Altenpflege, auch beim Ausbau von digitaler Infrastruktur etablieren. Aber eben auch, wie schon gesagt bei den Banken. In Deutschland gibt es schon solche Art von Banken, wie sie sich Wagenknecht vorstellt, nämlich die Sparkassen (öffentliche Trägerschaft) und die Volks- und Raiffeisenbanken (genossenschaftliche Trägerschaft). Private Banken wie die Deutsche Bank oder die Commerzbank sollen deshalb nach Meinung Wagenknechts abgeschafft oder umgewandelt werden.
Doch genau hier treten die Vorurteile Wagenknechts gegenüber privaten Einrichtungen zu Tage. Was heißt eigentlich gemeinwohlorientiert? Nach landläufiger Meinung: Dass man nichts tut, was dem Gemeinwohl schadet! Aber das ist schwierig zu bestimmen. Nützen Betriebe, die schlampig und ineffizient arbeiten, dem Gemeinwohl? Die gemeinwohlorientierten Betriebe sollen nur kostendeckend und nicht profitorientiert arbeiten, lässt sich als weiteres Kriterium anführen. Aber auch das reicht nicht, um dem Gemeinwohl gerecht zu werden. Es gibt Wasserbetriebe in kommunaler Hand in Deutschland, die sehr hohe Preise, um nicht zu sagen, überhöhte Preise von den Verbrauchern verlangen. Mitunter liegt das daran, dass eine frühere Investitionsentscheidung in eine viel zu große Wasser- oder Abwasseraufbereitung die Betriebe jetzt einholt und sie an den Kosten zu knabbern haben. Manchmal liegt das auch daran, dass sie ein schlechtes Kostenmanagement betreiben und niemand sie zwingt, es zu verbessern. – Damit soll keineswegs der Privatisierung der Wasserbetriebe das Wort geredet werden, dann wären das Monopole, die vielleicht noch mehr die Preise erhöhen.
Wagenknecht führt selbst Beispiele an, wo eigentlich gemeinwohlorientierte Unternehmen nicht gemeinwohlorientiert waren, sondern sich wie profitgierige private Unternehmen verhielten. – Sie schreibt auf S. 222 f.: „Das Gegenteil zum privaten Anbieter ist allerdings nicht einfach der staatliche. Es gab öffentliche Banken, die hatten ähnliche Geschäftsmodelle wie private, so, wie es auch in anderen Bereichen Unternehmen in Staatsbesitz gab und gibt, die sich aufführen wie private Renditejäger. Man könnte sagen, die Landesbanken waren im Finanzsektor, was die Deutsche Bahn auf der Schiene ist. Weder die Deutsche Bahn noch die Landesbanken waren allerdings von Anfang an so. Als die Deutsche Bahn noch Bundesbahn hieß, hatten auch kleinere Orte noch einen Bahnanschluss und die Mitarbeiter keinen Grund für Streiks. Als die Landesbanken noch schlicht die Clearingzentralen der Sparkassen waren und sich für größere Finanzierungen öffentlicher und privater Investitionsprojekte verantwortlich fühlten, leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft. Irgendwann wurden in beiden Bereichen die Regeln gelockert und das Erwirtschaften höchstmöglicher Rendite wurde zum obersten Unternehmensziel. Und dann war es vorbei mit dem öffentlichen Auftrag und der Gemeinwohlorientierung.“
Aha, hier sagt es Wagenknecht selbst: Es geht um Regeln, es geht um Beaufsichtigung! Wenn die nicht vorhanden ist, oder wenn die Regeln gelockert werden, nützen auch die schönsten Konstrukte zur Gemeinwohlorientierung nichts. Wenn also nicht verhindert wird, dass in kommunalen Wohnungsbaugesellschaften abgehalfterte Politiker in die Geschäftsführung geschoben werden, um einen Posten für sie zu finden, auch wenn ihre Fähigkeiten dafür nicht ausreichen, dann ist die Sache schon ziemlich verloren.
Bei den Banken können es, im Gegensatz zur Meinung Wagenknechts, auch private sein, die die Bedingungen für die Gemeinwohlorientierung erfüllen. Wagenknecht selbst zeigt in ihrem Buch auf, wie man argumentieren könnte, s.S. 190 f.: „Nachdem der Börsencrash an der Wall Street und anderen Finanzplätzen 1929 die Weltwirtschaft in eine jahrelange Depression mit Millionen Arbeitslosen und dramatischen politischen Folgen geführt hatte, wurden Konsequenzen gezogen. Den Finanzhäusern wurde ein enges Korsett angelegt und nahezu alles staatlich reguliert: die Guthaben- und die Kreditzinsen, die zulässigen Betätigungsfelder der Geschäftsbanken, faktisch sogar der Umfang der Kredite, die sie vergeben durften. Die Banken, bei denen Otto Normalverbraucher sein Konto hatte und von denen normale Unternehmen Kredite bekamen, waren klein und stabil. Der Radius ihrer Geschäftsbeziehungen war regional, höchstens national, und sie machten keine Wertpapiergeschäfte. Der Job des Bankers war langweilig, krisensicher und mäßig bezahlt, eher etwas für brave Angestellte mit Beamtenmentalität als für hochfliegende Geister mit mathematischer Sonderbegabung. An den Börsen wurden Aktien und Anleihen gehandelt, aber es gab keine undurchschaubaren Papiere und das Handelsvolumen war niedrig. Es war das eindeutig bessere Finanzsystem. In der Zeit zwischen 1945 und 1971 gab es keine einzige nennenswerte Bankenkrise.“
Hier steht nichts drin, dass die Banken von 1929 bis 1971 vom Eigentum her besondere Bedingungen erfüllen mussten. Es konnten eben auch private Banken sein, wenn sie sich an die Regeln hielten.
Wagenknecht erwähnt in ihrem Buch eine wesentliche Eigenschaft des Bankensystems in den USA von 1930 bis 1999 nicht, das Trennbankensystem. Dabei wurden Investmentbanken und Geschäftsbanken voneinander getrennt und so das systemische Risiko sehr stark vermindert. Nur wenn Geschäftsbanken, die für die Versorgung der Unternehmen mit Krediten zuständig waren, in Schieflage gerieten, musste staatlicherseits eingegriffen werden. Wenn Investmentbanken in Schieflage gerieten, dann waren sie und die Aktionäre dafür zuständig. Offensichtlich ist Wagenknecht von ihrem Gedanken der Gemeinwohlorientierung für Banken, die alle Probleme lösen soll, so begeistert, dass sie es nicht für notwendig hält, auf diese vergangene Eigenschaft des US-amerikanischen Bankensystems einzugehen. Und sie schlägt es auch nicht für das deutsche Bankensystem vor, entgegen anderen Autoren wie Rudolf Hickel („Zerschlagt die Banken“ 2. Aufl. 2012). Stattdessen schwebt ihr ein kleinteiliger, gemeinwohlorientierter Bankensektor vor, der kostendeckend, aber nicht gewinnorientiert ist. „Gemeinwohlbanken sind in erster Linie regionale Banken, die nur in einem eng begrenzten Raum Geschäfte machen und deshalb die Unternehmen und die Bedingungen vor Ort gut kennen. Darüber hinaus sollte es einige größere Institute geben, die als Clearingzentralen und zugleich als Finanzier größerer privater oder öffentlicher Investitionsprojekte bereitstehen.“ (S. 224)
Besser wäre es natürlich, dass sich die von ihr favorisierte Losung für den Bankensektor „small is beautifull“ von selbst einstellt und nicht vorgeschrieben werden muss.
Grundsätzlich hat Wagenknecht recht, wenn sie, wie viele andere Autoren auch, meint, dass der Bankensektor wieder eine dienende Funktion einnehmen muss, und kein Eigenleben in puncto höchstem Risiko führen darf. Nicht er soll sich an der Gesellschaft bereichern, sondern er soll die Gesellschaft mit seinem Handeln bereichern. Freilich die Bedingungen, die die Autorin dafür formuliert sind zu einseitig, um nicht zu sagen, zu ideologisch.
Zuletzt noch zu einem Kardinalfehler, der Wagenknecht bei der Betrachtung der Finanzbranche unterläuft. Sie trennt nicht korrekt zwischen Finanz- und Bankensektor. Der Finanzsektor ist viel größer als der Bankensektor, weil neben den Banken auch Versicherungen, Investmentgesellschaften, Börseneinrichtungen usw. dazu gehören. Zum Beispiel schreibt sie unter der Überschrift „Schlüsselbranche Finanzwirtschaft“ auf S. 186 „Aufgabe eines funktionierenden Finanzsektors wäre es, Geld in die wirtschaftlichen Bereiche zu lenken, die uns einen steigenden Lebensstandard bei gleichzeitiger Anwendung besserer, also arbeitssparender und zugleich naturverträglicherer Technologien ermöglichen.“ Hier meint sie eigentlich die Bankenbranche, die diese Aufgabe hat.
Um zu zeigen, wie wenig die Bankenbranche ihre Aufgabe erfüllt, schreibt sie vier Seiten später: „Nur noch 2 Prozent der weltweit getätigten Finanztransaktionen haben irgendeinen Bezug zur Realwirtschaft. Viel lieber handeln die Finanzspieler mit ihresgleichen, also mit Banken oder anderen Finanzdienstleistern. Ein Beispiel für solche inzestuösen Geldgeschäfte ist der Hochfrequenzhandel, der inzwischen 70 bis 80 Prozent des Handels an amerikanischen Börsen ausmacht. Realwirtschaftlich sind diese Transaktionen komplett sinnlos, ähnlich wie die meisten Derivate und Verbriefungen, aber die Manipulation der Marktpreise bringt den Finanzhäusern risikolose Einnahmen in Milliardenhöhe.“ Und hier meint sie wiederum die ganze Finanzbranche, tut aber so, als würde sie nur von den Banken sprechen.
Durch diese Ungenauigkeit in der Definition kümmert sich auch Wagenknecht nicht darum, dass den ausufernden Finanztransaktionen „Sand ins Getriebe“ gestreut werden müsste wie beispielsweise mit der Tobinsteuer.
Also, eine ganze Reihe von Punkten, die unbefriedigend in Wagenknechts Abschnitt zur Finanzbranche sind.