Das weiß natürlich niemand. Aber schon, dass man die Frage stellt – es gewissermaßen für möglich hält – zeigt die Denkrichtung an.
Stärkste Wirtschaftsmacht ist China jetzt bereits. Die Ablösung der USA erfolgte etwa in der ersten Hälfte der 2010er Jahre. 2017 sieht nun die Größenverteilung so aus:
■ Die VR China (ohne Taiwan und Macao) hat 2017 ein kaufkraftbereinigtes BIP von 23,4 Bill. Internationale Dollar (nach Angaben des Internationalen Währungsfonds).
■ Die USA, bisheriger Spitzenreiter, haben 2017 ein kaufkraftbereinigtes BIP von: 19,4 Bill. Int.-$.
■ Deutschland hat im Vergleich 2017 ein kaufkraftbereinigtes BIP von: 4,17 Bill. Int.-$ (Anmerkung: Deutschland hat nach der Liste des IWF, worauf sich die Angaben stützen, ein um 15 % geringeres pro Kopf BIP als die USA)
Freilich liegt China pro Kopf des BIP noch weit hinter den USA, weil diese viel weniger Einwohner haben. Da beträgt das Verhältnis noch 16,6 Tausend Int.-$ (China) zu 59,5 Tausend Int.-$ (USA). Legt man die Wachstumsraten zu Grunde, mit denen die beiden Länder 2017/2016 pro Kopf gewachsen sind, dann wird China zwischen 2033 und 2034 mit den USA gleich ziehen.
Allerdings, ob das passieren wird, steht in den Sternen, so hat man auch gern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dem japanischen Jahrhundert gesprochen, was dann Anfang der 90er Jahre wie eine Seifenblase zerplatzte. Heute spricht kein Mensch mehr davon.
Chinas Wachstumsraten sind beeindruckend (zwischen 6 und 7 Prozent jährlich), aber widerspricht nicht die zentralgeführte Wirtschaft einer Technologieführerschaft? Und kann überhaupt unter der Ein-Parteien-Herrschaft der kommunistischen Partei genügend Kreativität in der Industrie und der Wirtschaft entstehen? Gerade das erwähnte Japan ist das beste Beispiel. Nach Aufbau einer Industrie und einer technologischen Aufholjagd gegenüber führenden westlichen Industriestaaten, fing Japan in den 1980er Jahren an, den staatlichen Einfluss und die staatliche Industriepolitik zurückzufahren. Das MITI (das koordinierende Ministerium für Internationalen Handel und Industrie in Japan) verlor an Bedeutung, die Unabhängigkeit der Banken wurde gestärkt. Zum Teil waren diese strukturellen Veränderungen recht schmerzhaft, auch dadurch, weil Japan nach einer starken Immobilienblase am Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre in eine langanhaltende Rezession fiel. Dieser konjunkturelle Einbruch half dann sogar, die Strukturveränderung allmählich zu erzwingen.
Auch andere südost- und asiatische Staaten – Tigerstaaten genannt (wie Südkorea, Taiwan, Singapur, Malaysia) machten diesen Transformationsprozess von einer staatlich gelenkten zu einer mehr eigenständigen Wirtschaft durch. Und entsprechend müsste man es auch bei der VR China erwarten, wenn sie nicht in eine Stagnation verfallen will.
Nun gibt es trotz allgemein gültiger Trends auch Besonderheiten bei diesem Transformationsprozess. Bei der chinesischen Volkswirtschaft besteht sie darin, dass es neben einem staatlichen Sektor schon einen starken privaten Sektor gibt. Er ist sogar größer als der staatliche. Wie groß er genau ist, dazu gibt es keine verlässlichen Angaben, denn die Statistik tendiert dazu, kleine Unternehmen zu ignorieren oder private Unternehmen gar nicht zu berücksichtigen. Der Staat hat sich ausdrücklich dafür ausgesprochen die Kontrolle über solche strategischen Bereiche, wie die Rüstungsindustrie, die Energieerzeugung, die Öl- und Petrochemie, die Telekommunikation, Kohleabbau, Luft- und Schifffahrt zu behalten. Hingegen sind private Unternehmen vor allem in der Waren- und Konsumgüterproduktion und der Leichtindustrie zu finden. Laut Angaben der Weltbank soll der private Sektor schon 2005 einen Anteil am BIP von 70 Prozent gehabt haben. Achillesferse des privaten Sektors ist, dass die Regierung Einfluss auf das Finanzsystem und die Vergabe von Krediten behält und auch Richtlinien dafür erlässt. Große staatliche Unternehmen kommen leichter an Finanzmittel als private kleinere.
Ganz bewusst hat die chinesische Führung seit 1978, der großen chinesischen Wende unter Deng Xiaoping, den staatlichen Sektor reduziert. Damals betrug sein Anteil am BIP etwa 99 Prozent. Doch der staatliche Sektor erwies sich als wenig effizient, Korruption, Misswirtschaft, wenig Dynamik prägten ihn. Warum die chinesische Führung ihn nicht ganz beseitigt hat, hängt mit der Politik der kleinen Schritte zusammen, vor allem auch, um soziale Spannungen zu vermeiden. Zugleich wurde der staatliche Sektor immer mehr umgestaltet. Anders als im osteuropäischen Staatssozialismus besitzen die chinesischen Staatsunternehmen eine hohe Autonomie, können teilweise ihre eigenen obersten Leiter selbst wählen und ein Stück vom selbst erwirtschafteten Profit behalten. Dennoch existiert auch heute noch bezüglich der Effizienz ein Gefälle zwischen privaten und staatlichen Betrieben zugunsten der privaten.
Die Zweiteilung der Wirtschaft besteht ebenfalls auf dem Gebiet der Innovationen. In einem interessanten Artikel des Manager Magazins 7/2018 (S. 88 ff.) wird diese chinesische Eigenheit genauer untersucht. Zum Beispiel liegt China bei den FuE-Ausgaben (Ausgaben für Forschung und Entwicklung) auf der Überholspur. Das Land wird die USA allein bei der Größe der Aufwendungen dafür etwa 2019 eingeholt und dann überholt haben. Im Jahr 2000 lag es noch weit abgeschlagen zurück. Siehe die folgende Grafik. (Als Einschränkung muss bemerkt werden, die FuE-Ausgaben in den USA sind statistisch nicht hundertprozentig mit denen Chinas vergleichbar).
Woran es dem chinesischen Innovationsbereich noch krankt, ist die Effizienz. Ein Fachmann äußert sich im Manager Magazin: „Weniger als die Hälfte des Geldes wird richtig eingesetzt“, und die Autoren des Manager-Magazin-Artikels schreiben weiter: „Die üppigen chinesischen Budgets versickern oft in aufgeblähten Verwaltungen oder überflüssigen Geräten, in privaten Kassen und Korruption.“ Zu diesem Bild passt auch, dass im internationalen Handel mit Know-how die Chinesen nur Einkäufer sind: „Ihre Ausgaben für ausländische Patente, Marken- und Urheberrechte kletterten zuletzt auf fast 30 Milliarden Dollar. Eigene Einnahmen hat China hier kaum vorzuweisen. Zum Vergleich: Die USA erlösten 2016 für ‘Intellectual Property Rights’ 125 Milliarden Dollar, die deutsche Wirtschaft kam auf immerhin 18 Milliarden.“
Die Chinesen verweisen zwar auf Rekordzahlen bei wissenschaftlichen Aufsätzen und Erfindungen, doch die Prüfstandards für heimische Patente sind niedrig. Von „Schrottpatenten“ lästert man im Westen.
Doch die Chinesen holen auf und bemühen sich, ihre Effektivität auch bei Innovationen zu steigern. So können sie auf dem Telekomsektor die Giganten ZTE aus Shenzhen und Huawei vorweisen, die Zehntausende von Forschern und Ingenieuren in ihren Laboren beschäftigen, die sich anschicken, die neue 5G-Technologie zu beherrschen und auch global ein Stück mitreden können. (5G soll eine um 100 mal höhere Datenrate als 4G, d.i. LTE, haben.)
Der chinesische Innovationsbereich hat Stärken und Schwächen. Bei konsumorientierten Innovationen ist er stark, weil die Firmen einen riesigen Heimatmarkt haben, schnell skalieren können sowie sehr kundenorientiert und flexibel sind. Wie die Autoren des Management-Magazin-Artikels weiter schreiben: „Außerhalb des Konsum- und Digitalsektors sind die Chinesen vor allem bei Prozessinnovationen stark. Keine Nation der Welt hat so viel Erfahrung und Know-how bei der Herstellung von Waren in gigantischer Stückzahl. Yue Yuen bei Schuhen, Foxconn bei Elektronikprodukten, aber auch die vielen Solarhersteller (acht der zehn größten stammen aus China) gehören in diese Kategorie. In vielen dieser Riesenfabriken halten inzwischen Roboter Einzug.“
Und weiter: „Durchwachsener ist die Bilanz bei Ingenieurskunst und Grundlagenforschung. Stark sind da Konzerne wie Huawei und ZTE oder der Bahnmonopolist CRRC, der sich in Joint Ventures mit westlichen Konzernen wie Siemens entwickelt hat und nun seine eigenen Hochgeschwindigkeitszüge verkauft.
Die Autoindustrie indes hat es bis heute nicht geschafft, Volkswagen, Daimler und Co. gefährlich zu werden. Autokönig Li Shufus ganzer Stolz ist nicht Geely, sondern sein schwedischer Zukauf Volvo.
Eine auffallende Schwäche sehen die McKinsey-Experten zudem in der Pharma- und Biotechbranche, für die es viel Grundlagenforschung und einen langen Atem braucht. Übernahmen sollen das Defizit ausgleichen: 2017 hat der Staatskonzern ChemChina den Schweizer Agrochemie- und Saatgutriesen Syngenta erworben, den Rivalen von Bayers Neuerwerbung Monsanto.“
Dass der Innovationssektor eines Landes Stärken und Schwächen hat, ist normal und gilt auch für andere Industrieländer. China holt aber auch schon deshalb auf, weil es sich auf einen stark wachsenden privaten Sektor für Innovationen stützen kann. Nochmals dazu das Manager Magazin: „Mittlerweile fließt allerdings auch viel privates Geld direkt in innovative Unternehmen. Wagniskapital, bis vor wenigen Jahren praktisch nicht existent, gibt es mittlerweile im Überfluss. Gleiches gilt für Private-Equity-Gelder. Die wichtigsten Player genießen bereits Kultstatus. […] Laut KPMG [Seb. Solt.: gehört zu den vier großen Unternehmensberatungsfirmen in der Welt] verzeichnete China 2017 mit Venture-Capital-Investitionen in Höhe von 40 Milliarden Dollar einen neuen Rekord. Im vierten Quartal entfielen fünf der zehn größten VC-Deals der Welt auf die Volksrepublik.“
Dazu muss man betonen, dass die starken chinesischen Internetfirmen, wie Alibaba, Baidu und Tencent – die es mit Amazon, Facebook und Google aufnehmen können – nicht durch staatliche Befehle entstanden sind, sondern ihren Ursprung in privatem Engagement haben.
Ob die Ein-Parteien-Herrschaft in China zu einem Bremsklotz für Innovationen werden kann, ist noch nicht ganz entschieden. Bisher versuchen die chinesischen Machthaber, trotz aller Restriktionen in der Politik, in der Wirtschaft flexibel zu sein. So haben sie zum Beispiel keinen Masterplan für die weitere technische Entwicklung bis 2030 festgelegt, sondern nur eine Wunschliste veröffentlicht. Wer sich auf einem der technischen Gebiete engagiert und einen Durchbruch erreicht, kann mit hoher staatlicher Anerkennung und Unterstützung rechnen.
Bisher hat es noch kein Industrie-Staat mit einer Ein-Parteien-Herrschaft geschafft, technologisch führend zu werden und auf längere Sicht zu bleiben. China wäre das erste Land in der Welt.